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Toechter der Dunkelheit

Toechter der Dunkelheit

Titel: Toechter der Dunkelheit
Autoren: Alexandra Balzer
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1.
     
    Die Gemeinschaft der Dunklen Schwestern besitzt nicht viele Regeln, doch diese müssen ohne Ausnahme befolgt werden. Diejenige Schwester, die gegen diese Gesetze verstößt, wird vor dem Rat angehört werden, ob es gute Gründe gab. War es Leichtsinn, ein Missgeschick, ein unglückliches Versehen, mag ihre Strafe leicht ausfallen. War es notwendig, um ihr eigenes Leben oder das einer Schwester zu retten, wird der Rat entscheiden, was richtig ist. War es Vorsatz, gibt es nur eine angemessene Strafe, und das ist der Tod.
    Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
     
     
     
    Roen Orm
    29. Nachim, im Jahre 9012 nach Gründung der Stadt
    In der Nacht vor der Siuta
     
     
    Vollbracht.
    Es ist vollbracht“, flüsterte die alte Frau heiser. Die Spindel fiel aus ihren knorrigen Händen. Nur mit Mühe schaffte sie es, das Weidenkörbchen auf den Boden zu stellen, ohne den Inhalt zu verschütten – das Symbol ihres Lebenswerks.
    „Neunhundertsechzehn. Ich habe dich geschlagen, Yosi, wer hätte das gedacht?“
    Leise sang sie vor sich hin und wartete.
    Wer würde ihrem Ruf folgen? Würde überhaupt jemand kommen?
    Schließlich war sie eine Verstoßene, und zu wenige Schwestern waren verblieben in dieser Welt des Wandels. Immer weniger Töchter der Dunkelheit wurden geboren. Mädchen mit der Gabe zu hören, was in der Finsternis verborgen war, zu sehen, was im Schatten lauerte, zu beherrschen, was die Sonne fürchtete. Die das Gleichgewicht der Kräfte mehr liebten als alles andere.
    „Vielleicht ruht sie nur, die Gabe. Die Zeit der Göttin wird bald anbrechen“, murmelte sie. „Ah, Loéys wird es sein! Sie hat den Mut, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Das allein bedeutet fast ein Lebenswerk.“
    Sie seufzte unterdrückt, als eine neue Welle des Schmerzes durch ihren Körper brandete. Schwer atmend lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.
    „Lauf schneller“, wisperte sie und ließ ihre Worte davontragen.
    Nicht mehr lange, dann war es Mitternacht und die Siuta würde beginnen.
    Wenn weder Unfall noch Mord eine Dunkle Schwester töteten, konnte sie zu jeder Siuta, dem Jahresbeginn und Frühlingsanfang, beschließen, dass ihr Lebenswerk vollbracht sei und ihre Seele in die Hände der Göttin legen – es sei denn etwas geschah, was sie bereits vorher dazu trieb.
     
     
    Etwa vier Wegstunden entfernt hob Loéys den Kopf, lauschte im Wind, beschleunigte dann hastig ihre Schritte. Sie wusste, sie durfte nicht den kurzen Pfad nehmen, der sie binnen weniger Herzschläge herführen würde. Nur, wenn die Sterbende sonst ohne Segen gehen müsste, war dies erlaubt.
     
     
    Die Alte lächelte. Noch musste sie warten, es war gut so. Noch blieb ihr Zeit.
    Zeit ...
    All die Jahre ...
    So vieles war geschehen ...
     

2.
     
    Eine jede Tochter der Dunkelheit wird in der Nacht zum 29. Bashint geboren: Das, was die Menschen die Hexennacht nennen und wir Karr, den Tod des Jahres – das Ende des Herbstes, wenn alles, was lebt, dem Winter entgegen blickt. Nur in diesen Stunden kann ein Kind von der Göttin gesegnet werden.
    Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“
     
     
    „Press schneller, Mädchen, bald ist Mitternacht!“, brummte Linna. Die alte Milchmagd hockte neben ihrer Enkelin, die seit eineinhalb Tagen in den Wehen lag. Völlig erschöpft und kaum noch bei Bewusstsein versuchte das junge Mädchen vergeblich, sich aufzubäumen. Ihr Kopf sank zurück ins Stroh, sie zitterte und stöhnte, als die Wehe nutzlos ihren Körper folterte. Das Kind saß viel zu hoch im Becken.
    „Hab’s den Herrschaften gesagt, dass man warten sollte. Hab ich’s nicht gesagt, Mara? Schön und gut, dass sie bereits zwölf ist, viele Zwölfjährige spielen noch mit ihren Püppchen, hab ich gesagt. Ja, Kelina ist ein gutes Mädchen, fleißig und sauber, ja, sie hatte schon Brüste, aber noch das Becken eines Kleinkinds. Wartet zwei Sommer und verheiratet sie dann, das ist sich´rer, sagte ich. Und, hat einer gehört? Nee. Mit dem Stock gedroht haben die Herrschaften, was auch sonst. Und nun stirbt sie in der Hexennacht in diesem Drecksloch, weil sie immer noch zwölf ist und das Becken eines Kleinkinds hat und ihr Balg nicht durchrutschen will. Hab ich’s nicht gesagt, Mara?“ Linna drehte sich ungeduldig um, doch Mara, eine weitere Magd, lag schnarchend auf einem Strohhaufen. Nur das Milchvieh beobachtete das Elend, das sich vor ihnen abspielte.
    „Steh auf, du faules Weibsstück!“, schrie Linna zornig und warf einen ihrer
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