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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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der mit den Schultern zuckte. „Ich seh lieber nach, wie es am Himmel aussieht“, sagte er.
    „Ach ja, stimmt.“ Wenn Midnight war, würde der dunkle Mond dort oben stehen, der die Welt in sein kaltes, blaues Licht tauchte.
    Es war aber nicht Midnight. Es war Saisonstart am Montagmorgen, und viel weiter konnte man von der Magie der blauen Zeit kaum entfernt sein.
    „Komm mit“, sagte Jonathan und beugte seine Knie.
    Sie sprangen gemeinsam ab, erreichten mit einem Satz den Ausgang, wo sie gleichzeitig mit Rex eintrafen. Die drei stürzten gemeinsam auf den Parkplatz, die Augen zum Himmel aufwärtsgewandt.
    Hinter ein paar erstarrten Wolkenfetzen stand der volle Mond hoch am Himmel. Anscheinend saß er genau in der Mitte und bedeckte mit seinem gewaltigen Umfang den ganzen Himmel bis auf einen schmalen Spalt am Horizont. Die Sonne war hinter ihm verborgen. Einige wenige weiße Sterne schimmerten an den Rändern, ein gedämpftes Leuchten, als ob sie der riesige Mond mit seinem Gewicht zur Erde niederdrücken würde.
    Plötzlich spürte Jessica das Bedürfnis nach festem Boden unter den Füßen. Sie ließ ihre Finger aus Jonathans Hand gleiten, worauf sich die normale Schwerkraft auf sie herabsenkte. Von dem eigenartig abweisenden Licht des Mondes wurde ihr schwindelig, sie senkte den Blick zu Boden auf den Asphalt.
    Die rissige Oberfläche leuchtete gespenstisch blau.
    Dess und Melissa stürzten durch das Tor und kamen taumelnd zum Stehen, die Blicke aufwärtsgerichtet.
    „Das hier kann nicht sein“, murmelte Rex.
    „Stimmt“, sagte Dess, die ihre eigene blaue Hand betrachtete. „Aber irgendwie … ist es so.“
    Eine ganze Weile standen sie alle schweigend da. Jonathan federte nervös am Boden und hob ein paar Zentimeter ab.
    Jessica sah auf ihre Uhr. Die Zahlen blinkten noch: 9.05 Uhr vormittags. Genau wie in der normalen Midnight hielt ihr Flammenbringertalent die Uhr in Betrieb.
    Wie lange hatte es bis jetzt gedauert? Zwei Minuten?
    „Der Mond bewegt sich nicht“, sagte Rex.
    „Er tut was nicht?“, fragte Dess.
    Seine Augen sahen gebannt nach oben und blitzten violett.
    „Er hängt da oben fest, mitten auf seiner Bahn.“
    „Woher weißt du das?“, fragte Jessica, die zu dem riesigen, unheilvollen Auge über ihnen aufsah. Der dunkle Mond überquerte den Himmel viel schneller als die Sonne. Er brauchte nur eine Stunde, um auf- und wieder unterzugehen, aber dennoch war es, als ob man einen Minutenzeiger auf einer Uhr im Auge behalten wollte. „Eigentlich ist er doch zu langsam, um das zu erkennen, oder?“

    „Für dich vielleicht.“ Er lächelte. „Ich bin aber ein Seher, wie du weißt.“
    „Ach so, ja.“ Jessica sah Jonathan an, der mit einem Schulterzucken antwortete. Zurzeit konnte man leicht vergessen, dass Rex über ein besonderes Sehvermögen und tiefe Erkenntnisse aus der Lehre verfügte. Nach der Verwandlung draußen in der Wüste war er irgendwie … anders. Seit Kurzem war sein Blick so irre und wild, dass er mehr stoned als weise aussah.
    „Der Mond ist also nicht aufgegangen?“, fragte Dess. „Er ist einfach so aus dem Nichts aufgetaucht?“
    „Oder er ist richtig schnell aufgegangen.“ Rex sah auf seine eigene Uhr. Mechanische Uhren funktionierten in der blauen Stunde am Handgelenk eines Midnighters. „Wir sind in weniger als drei Minuten hier rausgekommen.“
    „Warum ist das so eine große Sache, was der Mond macht?“, fragte Jessica gelassen. „Das hier ist doch sowieso alles total durchgeknallt.“
    „Der Mond macht die geheime Stunde, soweit wir wissen.“
    Stirnrunzelnd starrte Rex zum Himmel. „Wenn er sich nicht bewegt, kann man unmöglich sagen, wie lange das hier dauern wird.“
    „Ach so.“ Jessica sah Jonathan nach, der auf einen Schulbus gesprungen war, um sich umzusehen. „Na ja, vielleicht …“
    „Bringen wir die Sache auf den Punkt, Rex“, sagte Dess.
    „Rechnen wir ein bisschen: Null Geschwindigkeit mal irgendeine Zeit ergibt null Bewegung. Was ist, wenn der Mond einfach da oben festsitzt ?“
    „Festsitzt?“, wiederholte Jessica. „Du meinst für immer?“
    „Für immer habe ich nicht gesagt.“ Rex senkte den Blick.
    „Das wäre … verrückt.“

    „Diese ganze Sache ist verrückt, Rex!“, rief Dess. „Es ist nicht Mitternacht. Vielleicht in Australien oder sonst irgendwo, aber nicht hier. Trotzdem ist es blau. “
    „Genau, was passiert hier, Rex?“, fragte Jonathan, der geschmeidig zur Gruppe zurückfederte.
    Rex hob die Hände.
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