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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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der Dunkelheit.

    Der Rest der Welt besaß aber noch Uhren, und so hatte Melissa heute Morgen wieder an sein Fenster gehämmert und ihn brutal aus seinen seltsamen neuen Träumen gerissen.
    Wenn er klar denken konnte, brauchte er kaum zu sprechen. Melissa zog die Worte einfach aus ihm heraus. Aber heute Morgen war er einfach zu angeschlagen.
    „Genau, ein paar böse Träume“, sagte Rex laut. „Aber nicht alle.“
    Die Jagdträume waren angenehm gewesen – der kühle, beharrliche Hunger, während er tagelang Beutespuren über die Ebene folgte, dann die Erwartung, die sich aufbaute, wenn die Schwächsten von der Herde getrennt wurden, und endlich der brennende Kick beim Töten.
    Aber dann waren da natürlich noch diese anderen Träume gewesen, Erinnerungen an die schlauen kleinen Äffchen, als sie anfingen, selbst zu jagen. An den Anfang vom Ende.
    „Himmel, hör auf zu grübeln“, sagte Melissa. Sie entzog ihm ihre Hand und rieb sie, als ob sie die Schrecken der Vergangenheit, die in seinen Gedanken zu spüren waren, auswringen wollte. „Ich glaube, hier hat heute Morgen einer vergessen, seinen Kaffee zu trinken.“
    „Tut mir leid, Cowgirl. Stimmt, ich könnte eine Tasse vertragen. Oder besser sechs.“ Rex schüttelte wieder den Kopf.
    Sein Hirn fühlte sich zugestopft an. Die Erinnerungen, die ihm die Darklinge implantiert hatten, als sie ihn zu einem der ihren machen wollten, schienen seine eigenen Gedanken beinahe hinauszudrängen. „Manchmal frage ich mich, ob ich je wieder normal werde.“
    Melissa rümpfte die Nase. „Als ob du jemals normal gewesen wärst, Rex! Als ob irgendeiner von uns jemals normal gewesen wäre.“

    „Na ja, vielleicht nicht normal“, gab Rex zu. „Aber menschlich würde mir auch schon reichen.“
    Sie berührte lachend seine Schulter, und wie einen Funken spürte er ihre Heiterkeit sogar durch den Stoff seines langen, schwarzen Mantels hindurch. „Du bist absolut menschlich, Rex. Das kannst du mir glauben.“
    „Freut mich, dass du das denkst“, sagte er lächelnd.
    Melissas Finger blieben auf seiner Schulter, trommelten einen nervösen Rhythmus, und ihr Blick wanderte zur offenen Tür der Sporthalle. Rex fiel auf, dass Melissa sich zwar wesentlich besser unter Kontrolle hatte, aber die Vorstellung, die Eröffnungsfeier der Footballsaison ertragen zu müssen, schien sie immer noch zu beunruhigen.
    „Du wirst es schaffen“, sagte er leise und zog sie näher.
    Sie wandte sich ihm zu, und ihre Lippen trafen sich.
    In der Wärme ihres Kusses spürte Rex zuerst Ernsthaftigkeit, ihre neue Ausgeglichenheit und Selbstkontrolle flossen zu ihm hinüber. Aber dann ließ Melissa ihre Beherrschung fallen, und es war wie beim ersten Mal. Alles brach hervor: Die ständigen Verletzungen aus all den Jahren der Einsamkeit, Erinnerungen an das permanente Hämmern der Gedanken der anderen, an die alte Angst, berührt zu werden. Sie ließ sie aufsteigen und überlaufen, in ihn hineinfließen. Rex war für einen Augenblick überwältigt, aber dann spürte er, wie sich seine angeschlagene Sicherheit erholte und auf ihr Verlangen reagierte. Er drehte sich zur Seite, um ihre Schultern zu packen, und der Kuss wurde heftiger, seine Stärke wurde ihre, bis er spürte, dass Melissas Selbstkontrolle zurückkehrte.
    Sie seufzte, als sie sich trennten. „Ich sag’s noch einmal, Rex: absolut menschlich.“
    Rex lehnte sich lächelnd in seinem Sitz zurück. Die schwere Last, die er gespürt hatte, seit ihm beim Aufwachen bewusst geworden war, dass ein Schultag war – und zwar Montag – schien endlich von ihm gewichen.
    Melissas Finger strichen ihm über die Wange, und sie grinste. „Jetzt schmeckst du elektrisiert, wie nach einem Kaffeeschub.“
    „Hm. Vielleicht ist Küssen so was Ähnliches wie natürlicher Kaffee.“
    „Kaffee, lieber Rex, ist natürlich. Es handelt sich um eine Pflanze, wie du weißt.“
    „Ach ja, stimmt. Ein Punkt für dich, Cowgirl.“
    Er sah zum Eingang der Sporthalle hinüber. So schlimm konnte die Feier doch gar nicht sein, oder? Allemal besser als die verhasste Mathestunde, die dafür ausfiel. Und er konnte die Zeit nutzen, um für den bevorstehenden Englischtest zu lernen. Wenn man ständig altertümliche Erinnerungen einer früheren Spezies mit sich herumtrug, konnte man sich damit eine Interpretation vom Fänger im Roggen ziemlich versauen.
    Rex sah in seinem Rucksack nach. Kein Englischbuch. „Ich muss noch mal zu meinem Spind. Hältst du mir einen Platz
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