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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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frei?“
    „Letzte Reihe?“
    „Na klar.“ Er rümpfte die Nase. „So sehr habe ich mich auch nicht verändert.“
    Sie nickte langsam, dann verengten sich ihre Augen. „Soll ich mitkommen?“
    „Mach dir um mich keine Sorgen.“ Rex fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Sie fühlten sich nie so scharf an, wie er sie sich vorstellte, die Fangzähne waren nicht so lang, wie sie sein sollten. Phantomglieder schmerzten manchmal nachts, als ob Teile seines Körpers fehlen würden.

    Aber dann holte Rex tief Luft und verbannte diese Gedanken aus seinem Kopf. Er konnte sich nicht über jede Unannehmlichkeit beschweren. Ihm war etwas zugestanden worden, wofür jeder Seher sein Leben geben würde: eine Chance, mehr über die Darklinge zu lernen, als ihm die Lehre je vermitteln konnte, die Möglichkeit, sie von innen heraus zu verstehen. Vielleicht war seine Entführung mit der anschließenden Transformation ein verstecktes Geschenk gewesen.
    Solange seine menschliche Hälfte die Oberhand behielt …
    „Ist schon gut, Cowgirl“, sagte er. „Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

    Die Flure waren so unangenehm hell wie immer, durch die Türen flutete das Sonnenlicht, und die Leuchtstoffröhren über ihm gaben einen konstanten Summton von sich.
    Rex blinzelte im Licht, was ihn daran erinnerte, dass er sich eine Sonnenbrille kaufen musste. Dies war einer der Vorteile seit seiner Verwandlung: Er konnte viel schärfer sehen. Rex brauchte in der Schule keine Brille mehr. Ein seltsamer Fokus klebte hier überall: Die Zeichen menschlicher Durchdringung und Erfindung, eine Million Beutespuren, die alles kristallklar und irgendwie … appetitlich machten.
    Es war fast zu viel. Manchmal wünschte er sich, er könnte die Schule wieder weich und verschwommen sehen, durch die dicken Gläser, die er seit der dritten Klasse getragen hatte, von ihm getrennt. Alles war plötzlich so scharf. Es waren nicht nur die Leuchtstoffröhren, die ihm auf die Nerven gingen. Rex konnte die Feuermelder und das Lautsprechersystem hinter den Wänden spüren, jene rasierklingenscharfen Drähte, mit denen clevere Menschen immer ihre Gebäude durchzogen. Er fühlte sich wie in einem Metallkäfig mit elektrisch geladenen Gittern.

    Menschliche Behausungen waren außerdem so hässlich.
    Zum ersten Mal in seinen beiden Jahren an der Bixby Highschool fiel Rex auf, dass die Bodenfliesen genauso gelb waren wie die Nikotinfinger seines Vaters. Wer war bloß auf so eine Wandfarbe gekommen?
    Wenigstens waren die Flure wegen der Feierlichkeiten wie leer gefegt.
    Während er sich zu seinem Spind begab, fuhr er mit einer Hand über seinen Schädel und spürte, wie es kitzelte. Als Jessica ihn mit ihrer weißen Flamme vom Körper des Darklings befreit hatte, war sein Haar an etlichen Stellen verbrannt, woraufhin seine Frisur ziemlich gruselig aussah. Also hatte sich Rex das Haar bis auf einen Zentimeter kurz geschoren, mit dem Rasierer, den sein Vater früher benutzt hatte, um ihrem Hund Magnetosphere im Sommer das dicke Fell kurz zu scheren.
    Rex blieb immer noch stehen, wenn er sein Spiegelbild in Schaufensterscheiben entdeckte, und erwischte sich ständig dabei, dass er sich über den Schädel strich, fasziniert, weil die Haare so senkrecht hochstanden und sich hart und ebenmäßig wie Kunstrasen anfühlten. Vielleicht bedeutete das, dass Melissa recht hatte, und er war immer noch menschlich: Trotz all der Veränderungen, die seinen Körper und seine Seele erschüttert hatten, war ein neuer Haarschnitt immer noch gewöhnungsbedürftig.
    Rex war bei seinem Spind angekommen und überließ es seinen Fingern, das Zahlenschloss nach Gefühl zu öffnen. Der Trick bestand darin, nicht an die Zahlen zu denken, jene schlaueste und gefährlichste Erfindung der Menschen. Wenigstens gab es in seiner Kombination keine Vervielfachungen des Grauens. Es war schon schlimm genug, wenn seine Finger versagten und Rex noch einmal von vorn anfangen musste, sich Zahl für Zahl durch die Serie zu kämpfen, wie ein Fünftklässler an seinem ersten Schultag.
    Wenn sein Blick auf das Zahlenschloss fiel, sah er das Grauen kaum noch – es erschien wie ein verschwommener Fleck zwischen der Zwölf und der Vierzehn, den sein Verstand ausblendete wie das Gesicht eines Informanten des FBI in den Nachrichten.
    Er überlegte, ob er Dess’ Angebot annehmen sollte, die das Schloss auseinandernehmen und umpolen wollte, bis daraus eine angenehme Kombination aus zwölf und vierundzwanzig
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