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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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mit ihren gelangweilten Gedanken Position bezogen, gierten nach Zigaretten und mehr Kaffee und waren insgeheim erleichtert, dass der erste Unterrichtsblock ausfiel. Die Fünftklässler kampierten auf der untersten Tribüne und behielten die fliegenden Röcke der Cheerleader im Blick, mit geilen Gedanken, die ätzend nach Schweiß schmeckten.
    Melissa fand das alles zum Schreien komisch. Warum war ihr diese schlichte Tatsache nie bewusst geworden? Warum hatte ihr das nie jemand gesagt? Die Highschool war keine Feuerprobe und auch kein Martyrium, das man überstehen musste.
    Das Ganze war ein einziger Witz. Man musste ihn nur mit der Lachsalvenspur unterlegen.
    Durch die Gedanken der Meute hindurch erreichten sie die der anderen Midnighter mit ihren unterschiedlichen Geschmackstypen, die laut und deutlich hervorstachen. Zu dritt saßen sie beieinander – von Melissa so weit weg wie möglich.
    Besonders klar fing sie jeden einzelnen kalten Blick von Dess hinter ihrer dunklen Brille auf. Noch immer waren deren Gedanken wegen der Ereignisse vor zehn Tagen von beißendem Hass erfüllt.
    Melissa fühlte sich damit auch nicht gut – niemand wusste besser als sie, wie gemein es war, wenn man in die Gedanken eines anderen gegen dessen Willen eindrang. Sie hatte aber keine andere Wahl gehabt. Wenn sie nicht eingedrungen und Dess’ Geheimnisse aufgestöbert hätte, wäre Rex inzwischen als ausgewachsener Darkling flügge geworden, statt …Na ja, statt dem …was auch immer jetzt aus ihm geworden war.
    Jonathan und Jessica saßen dicht nebeneinander, hielten sich mit verschlungenen Fingern an den Händen, in ihrer Zweisamkeit von allen anderen isoliert. Natürlich drehten sie sich gelegentlich zu Dess um und wechselten ein paar Worte mit ihr, warfen ihr einen Knochen hin. Jessica hatte mit angesehen, was Melissa mit Dess getan hatte, und fühlte sich beinahe so schlecht, als wäre sie es selbst gewesen. Über ihren Gedanken lag häufig die zähflüssige Schuld der Überlebenden: Wenn ich Melissa doch nur aufgehalten hätte, bla, bla, bla …
    Allerdings war Jessicas Entrüstung nicht annähernd so schlimm wie das, was in Jonathans Gedanken lauerte. Seit er Melissa berührt und gespürt hatte, wie es sich anfühlte, wenn man Melissa war, vergiftete ihn ein ranziges Mitgefühl von Kopf bis Fuß.
    Womit er sich natürlich lächerlich machte. Melissa zu sein fühlte sich nämlich gar nicht mehr so an.
    Es fühlte sich wunderbar an.
    „Volltrottel“, flüsterte sie und ließ sich wieder von der singenden Menge tragen.

    Loverboy traf fünfzehn Minuten zu spät ein, unbemerkt schlüpfte er an dem Lehrer vorbei, der den Eingang überwachte.
    Melissa schmeckte seinen Geist in dem chaotischen Getümmel der Show. Trotz aller Verwirrung, die er jetzt mit sich trug, kamen Rex’ Gedanken noch immer auf ihrem eigenen speziellen Kanal bei ihr an, sogar deutlicher als die der anderen Midnighter. Sie wusste sofort, dass ihm in den leeren Fluren der Schule etwas Außergewöhnliches widerfahren war.

    Sein Verstand war wach und aufgewühlt, genau wie wenn sie sich geküsst hatten.
    Was immer ihm auch passiert sein mochte, es hatte ihn auch verstört. Melissa spürte, wie er ängstlich die Menge absuchte und sich erst entspannte, als er sie ganz oben auf der Tribüne an der Tür entdeckt hatte. Mit weichen, mühelosen Schritten kam er auf sie zu, gleitend wie eine Katze auf dem Dachfirst.
    Melissa lächelte. Rex mit seiner neuen katzenhaften Grazie zu beobachten gehörte zu ihren höchsten Genüssen.
    „Hast du, was du wolltest?“, fragte sie, als er sich neben ihr niederließ.
    „Ach so, mein Englischbuch.“ Er schüttelte den Kopf. „Hab ich ehrlich gesagt total vergessen. Hatte unterwegs Ärger.“
    „Hm. So was Ähnliches hatte ich mir schon gedacht.“ Jetzt schmeckte sie es deutlicher: Unter seiner Erregung blubberte Rex’ Darklinggeschmack, den er jetzt manchmal an sich hatte
    – saure Zitrone von einem jungen Räuber, der Beute wittert.
    „Gefressen hast du aber keinen, oder?“
    „Nicht ganz. War aber ziemlich dicht dran.“ Er hielt ihr seine offene Handfläche hin. „Willst du’s sehen?“ Seine Augen blitzten.
    „Unbedingt, Loverboy.“ Sie lächelte und legte ihre Hand in seine.
    Der Darklinggeschmack wurde intensiver, kroch scharf und elektrisierend durch sie hindurch, als ob sie eine alte Batterie küssen würde, die noch nicht ganz entladen war. Der eindringliche Geschmack blendete die langweiligen Aromen der
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