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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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blödsinnig.
    Das sah man den Gesichtern des Teams an, wenn sie zuhörten: Sie ließen sich davon beeinflussen, als ob eine Menschenmenge tatsächlich ihre Kraft an ein paar pickelgesichtige Jungs weitergeben könnte. Melissa fragte sich, ob der Erfinder des Begleitrummels für Schulsportveranstaltungen vielleicht eine Ahnung vom Gedankenlesen gehabt hatte.
    Dieser Teil der Show hatte Melissa in der Vergangenheit mit Entsetzen erfüllt – wenn die versammelten Geister ihre Energie im Chor vereinten, wenn jeder vereinzelte Gedanke von den animalischen Befehlen der Meute weggeschwemmt wurde: Bleibt bei der Herde. In der Menge seid ihr sicher. Tötet den Feind. Schlagt North Tulsa.
    Sie ließ ihren Blick über die Fäuste schweifen, die sich im Rhythmus hoben und senkten, spürte die stampfenden Füße, unter denen die Tribünen bebten. Der Gruppe der hübschen Mädchen war ihr Kraftfeld abhandengekommen, sie hatten sich in der Menge aufgelöst. Die Jungs aus der Fünften in der ersten Reihe hatten den Ernst der Lage inzwischen erkannt und schielten nicht mehr nach den Cheerleader-Röcken. Sogar Jessica Day und Flyboy hatten sich angeschlossen und versuchten halbherzig mitzumachen – die Macht der Meute hatte sie im Griff.
    Nervös atmete Melissa ein paar Mal tief durch. Diese Show war ein Witz, redete sie sich zu. Die Meute wusste nicht, was sie tat, und von all den Geistern in dieser Sporthalle konnte sich kein einziger mit ihren Kräften messen. Nur weil sie ein bedeutungsloses Footballspiel gefunden hatten, um sich auszutoben, wurden sie nicht stärker als sie.
    Allmählich beruhigte sie sich.
    Dann fiel Melissa auf, dass Rex Witterung aufnahm. Seine Augenlider zuckten, seine Nasenflügel bebten.
    Der Chor flößte auch ihm Angst ein.
    „Das ist wie eine Jagd“, zischte er. „So haben sie sich in den alten Zeiten bereit gemacht.“
    Melissa berührte Rex’ Hand und spürte die Menge einen entsetzlichen Moment lang so wie er. Kleine Menschenwesen, zart und schwach – aber so viele von ihnen. Rituale wie dieses waren es gewesen, mit deren Hilfe sie die Furcht vor den Darklingen besiegt hatten. Und eines Tages hatten sie begonnen, ihre Räuber selbst zu jagen, Menschenrudel, die sich mit Feuer und ihren scharfen, cleveren Steinen bewaffnet hatten.
    Am Ende hatte eine Gruppe von ihnen Erfolg gehabt und einen jungen Darkling erlegt, der sich selbst für unverwundbar gehalten hatte. Und ein Teil der Furcht, auf die sich die Herrenrasse stets verlassen hatte, war für immer verloren. Die ältesten Geister erinnerten sich noch immer an den Moment, als sich das Gleichgewicht zu verlagern begann. Menschen waren allmählich sicherer geworden, hatten die Bilder ihrer Tötungen auf Steine und in den Schlamm gemalt, die ersten verhassten Zeichen ihrer Herrschaft.
    Melissa zog ihre Hand weg, auf der die Erinnerung brannte.
    Vielleicht war diese Show doch kein Witz. Schließlich ging es an der Highschool ständig um die ältesten menschlichen Bande – die Stämme, das Rudel, die Jagdgesellschaft.
    Rex’ Hände zuckten. Er kämpfte mit dem Teil in ihm, dem er zu entkommen versuchte.
    „Sollen wir gehen?“, flüsterte sie.
    Er schüttelte grimmig den Kopf. „Nein. Das hier ist wichtig.
    Muss lernen, mich zu beherrschen.“
    Melissa seufzte. Manchmal war Rex ein Schwachkopf.
    Sie dachte oft an eine Zeile, die sie an einer Toilettenwand gelesen hatte: Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker. Während Melissa zusah, wie sich auf Rex’ Oberlippe Schweißtropfen sammelten, dachte sie, dass er den gleichen Fehler beging wie der Typ mit dem Toilettenspruch.
    Nicht alles machte einen stärker. Man konnte auch überleben, aber von den Ereignissen verkrüppelt. Manchmal war es in Ordnung, wegzurennen, die Prüfung zu schwänzen, feige zu sein. Oder sich wenigstens ein bisschen Hilfe zu holen.
    Sie nahm ihn fest bei der Hand, ließ nicht zu, dass er sich ihr entzog, und suchte in sich selbst nach einem Ort, den Madeleine ihr gezeigt hatte, einem alten Trick der Gedankenleser, um sich abzusetzen. Melissa schloss die Augen und drang in Rex ein, schob den Chor der Meute sanft aus seinen Gedanken.
    Sie spürte, wie er entspannte, wie seine Angst vor der Menge – und vor dem Tier in ihm – verschwand.

    „Uff“, sagte er leise. „Danke, Cowgirl.“
    „Wann immer du willst, Loverboy.“
    „Okay. Wie wär’s heute Nacht?“
    Sie schlug die Augen auf. „Was?“
    „Vielleicht können wir später …“ Rex’ Stimme
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