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Der Riss

Der Riss

Titel: Der Riss
Autoren: Scott Westerfeld
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geworden wäre. Sie erledigte momentan auch schon seine Mathehausaufgaben. Auf jeder Seite gab es zu viele Zahlenfolgen, die die Darklinghälfte seines Verstandes paralysierten, bis er mit abgekautem Bleistift und hämmernden Kopfschmerzen dasaß.
    Mathe war inzwischen tödlich.
    Erfolg beim ersten Versuch. Er hörte das leise Klicken, als der letzte Zylinder einrastete, und ließ freudig das Schloss aufklappen. Abgelenkt durch seine Gedanken an die Zahlen bemerkte Rex jedoch zu spät, dass sich jemand von hinten angeschlichen hatte. Ein bekannter Geruch fuhr durch ihn hindurch und setzte alte Alarmglocken in Gang, plötzlich tauchten beängstigende und gewalttätige Erinnerungen auf.
    Eine Faust traf den Schrank und schlug ihn wieder zu. Das Geräusch hallte durch den leeren Flur, als er herumwirbelte.
    „Hallo, Rex. Brille verloren?“
    Timmy Hudson. Das erklärte das ängstliche Grummeln in Rex’ Magengrube – der Junge hatte ihn in der Fünften beinahe täglich zusammengeschlagen. Mit der gleichen Intensität wie die Darklingerinnerungen spürte Rex, wie es sich angefühlt hatte, als er eines Tages von Timmy und seinen drei Kumpels hinter der Schule umzingelt worden war und so heftige Schläge in den Bauch kassiert hatte, dass er noch eine Woche lang beim Pinkeln Schmerzen gehabt hatte. Obwohl Timmy ihn seit Jahren höchstens noch an die Wand drängte, krampfte sich Rex’ Magen so unerbittlich zusammen wie eh und je.
    „Hab sie nicht verloren“, antwortete Rex mit einer Stimme, die sich in seinen Ohren schwach und wehleidig anhörte.
    „Brauch keine Brille mehr.“
    Timmy grinste und trat näher, sein Atem roch beißend nach saurer Milch. „Kontaktlinsen? Hm. Komischerweise siehst du mit denen noch behinderter aus.“
    Rex antwortete nicht. Plötzlich fiel ihm auf, dass Timmy zu ihm auf sehen musste. Irgendwann hatte er seine alte Heimsuchung beim Wachsen überholt. Wann war das bloß passiert?
    „Du hältst dich seit Neuestem wohl für ziemlich cool, was?“
    Timmy unterstrich das letzte geknurrte Wort durch einen heftigen Stoß, und ein Zahlenschloss rammte sich Rex in den Rücken, hart wie ein Gewehrlauf. Das Gefühl schärfte seine Sinne, und er spürte, wie seine Lippen zuckten und seine Zähne entblößten. Sein Mund fühlte sich plötzlich trocken an.
    Etwas regte sich in Rex, etwas, das stärker war als er.
    Er schüttelte den Kopf. Nein. Er war Rex Greene, ein Seher, kein Tier.
    „Was ist los? Zu cool, um mit mir zu reden?“ Timmy lachte, dann sah er blinzelnd zu Rex’ Haaren auf. Er streckte eine Hand aus und strich über die bürstenartige Oberfläche.
    „Und ’ne neue Frisur?“ Timmy schüttelte traurig den Kopf.
    „Versuchst du, mutig auszusehen? Als ob nicht alle wüssten, was du für ein kleiner Feigling bist?“
    Rex fiel auf, dass er Timmys Hals anstarrte, wo das Blut dicht unter der Haut pochte. Ein kleiner Riss in der dünnen Haut würde reichen, dann lief das Leben aus, warm und dickflüssig.
    „Glaubst wohl, deine kleine Generalüberholung würde Mister Cool aus dir machen, oder?“
    Rex fiel auf, dass er bei den Worten lächeln musste. Mit ihm war etwas passiert, das viel extremer war, als es sich Timmy vorstellen konnte.
    „Was ist so komisch?“
    „Dass du so schwach bist.“ Rex blinzelte. Die Worte waren einfach so aus seinem Mund hervorgequollen.
    Timmy trat einen halben Schritt zurück, für kurze Zeit mit leerem Blick wegen des Schocks. Er sah den Gang hinunter, erst in die eine Richtung, dann in die andere, als ob er die Reaktion eines unsichtbaren Publikums überprüfen wollte.
    „Ich bin was ?“, zischte er schließlich.
    Rex nickte bedächtig. Er konnte es jetzt riechen , fiel ihm auf, und der Geruch nach Schwäche berührte etwas in seinem Inneren, das außer Kontrolle zu geraten drohte.
    Sein Verstand rang um eine Möglichkeit, die Kontrolle zurückzuerlangen. Er versuchte, an die Symbole der Lehre zu denken, aber sie waren alle wie weggeblasen. Nur Worte waren noch geblieben. Vielleicht konnte er weiterreden …
    „Du bist einer von denen, die wir von der Herde trennen.“
    Timmy zog die Augenbrauen hoch. „Was sagst du, Krüppel?“
    „Du bist schwach und hast Angst.“
    „Du glaubst, ich hab Angst, Rex?“ Der Junge versuchte, ein amüsiertes Lächeln aufzusetzen, aber nur eine Hälfte seines Gesichtes gehorchte. Die Linke schien erstarrt, verkrampft und großäugig, seine Angst war durchgesickert. „Vor dir ?“
    Rex sah, wie Timmys Puls schneller
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