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Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring
Autoren: Paul Melko
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kreideweiß, wahrscheinlich hat sie innere Blutungen.
    Aber ohne mich, tausend Meter weiter oben im verschneiten Gebirge, wäre sie schon längst tot.
    Es sei denn, sie hätten ein weiteres Aircar geschickt.
    Ich sitze da und starre ins Leere. Mein Herz ist vereist.
    Schon als Kind war ich immer der Starke, schon vor unserem ersten Konsens. Ich war größer, kräftiger, schwerer als die anderen. Das war mein Vorteil, meine Besonderheit, und jeder hat es auf den ersten Blick gesehen. Ich bin kein Experte für Täuschungsmanöver, auch nicht für Erinnerungen, logisches Denken oder Geschicklichkeit. Doch, wenn es hart auf hart kommt, kann ich rasch die richtigen Entscheidungen treffen. Aber besonders geschickt bin ich nicht.
    Nie hätte ich gedacht, dass ich meinen Pod überleben könnte. Dass ich als Einziger zurückbleiben könnte.
    Mein Inneres sträubt sich gegen diese Gedanken. Ich stehe auf und hole mein Messer raus, säge zwei Baumschösslinge ab, die im Bachbett Wurzeln geschlagen haben, und binde sie mit dem Seil zu einem einfachen Schleppgestell für die verletzte Hagar Julian zusammen.
    »Du hättest uns oben lassen sollen.«
    Ich drehe mich um. Der Erste, den ich unter dem Schnee gefunden habe, ist aufgewacht.
    »Das ist doch Zeitverschwendung«, fährt er fort. »Wir sind ein defekter Pod.«
    Ich schweige, gebe ihm aber im Stillen Recht.
    »Aber das kannst du ja nicht wissen. Wo dir doch deine ganzen denkfähigen Bestandteile abhandengekommen sind.«
    Ich verstehe ihn, ich verstehe seine Wut und seine Verzweiflung. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Also nicke ich nur.
    »Wahrscheinlich kapierst du nicht mal, was ich sage.«
    »Du hast Recht. Ich bin Kraft, sonst nichts.« Gleichzeitig frage ich mich, was er eigentlich will. Will er einen Kampf provozieren? Sicherheitshalber füge ich noch einen Satz hinzu. »Aber ich habe dir das Leben gerettet.«
    »Und? Soll ich mich jetzt bei dir bedanken, oder was?«
    »Nein. Aber du stehst in meiner Schuld. Und deshalb werden wir morgen früh gemeinsam ins Tal gehen. Danach sind wir quitt. Wenn ihr euch dann umbringen wollt, meinetwegen. «
    »Sturkopf.«
    »Stimmt.« Auch da kann ich ihm nicht widersprechen.
    Ein paar Sekunden später ist er wieder eingeschlafen, und diesmal dämmere ich ebenfalls weg.
     
    Am nächsten Morgen wache ich steif und verfroren auf. Aber immerhin sind wir noch am Leben, denke ich. Ein paar Sekunden bleibe ich auf den Steinen hocken und lausche in die Stille, doch das leise Plätschern des Wassers übertönt alles andere. Vom Surren irgendeines Rettungsaircars oder den Rufen irgendwelcher Suchtrupps ist nichts zu hören. Hier würden sie uns wahrscheinlich sowieso nicht finden, so weit entfernt von unserem Startpunkt. Es geht nicht anders, wir müssen allein weiterziehen.
    Aus dem Nichts überflutet mich eine Welle des Zweifels. Der Konsens des Einzelnen ist stets falsch oder fehlerhaft, lautet ein Grundsatz des Podbewusstseins – und meine Entscheidungen haben uns tatsächlich in eine aussichtslose Lage gebracht. Nur wären wir oben im Gebirge vermutlich noch früher gestorben. Dann hätten die drei ihren Willen bekommen. Und vielleicht haben sie Recht.
    Ich habe Hunger. Nacheinander klopfe ich meine Taschen ab, obwohl ich weiß, dass ich nichts Essbares eingesteckt habe. Schließlich wollte ich gleich zu meinem Pod zurückkehren, mit einer langen Reise durch Eis und Schnee hatte ich nicht gerechnet. Als Nächstes taste ich die Taschen der Verletzten ab, aber sie hat auch nichts dabei.
    »Hast du was zu essen?«, frage ich den, mit dem ich gestern Abend gestritten habe. »Wie heißt du eigentlich?«
    »Hagar Jul…« Er verstummt und starrt mich wütend an. »Nein, nichts zu essen.«
    Ich knie mich neben ihm auf den Boden. »Wenn ich euch wieder da rauf bringe, könnt ihr mir dann verzeihen, dass ich euch gerettet habe?«
    »Gerettet? Darüber lässt sich streiten.«
    Ich nicke. »Wie heißt du?« Obwohl wir uns schon seit zehn Jahren regelmäßig im Unterricht sehen, kenne ich seinen persönlichen Namen nicht. Wir haben immer nur als Pods kommuniziert, nie als Individuen.
    Nach langem Schweigen ringt er sich zu einer Antwort durch. »David.«
    »Und die anderen?«
    »Die mit dem gebrochenen Arm heißt Susan, der andere Ahmed.« Die beiden schlafen noch.
    »Vielleicht hat der Rest von euch irgendwie überlebt«, versuche ich ihn aufzumuntern. Währenddessen wird mir klar, dass ich damit nur meinen eigenen Wunsch ausspreche. Dabei habe
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