Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring
Autoren: Paul Melko
Vom Netzwerk:
jetzt steht auf! Steht auf, alle drei!«
    Sie betrachten mich wie einen Wahnsinnigen.
    Mir reicht’s. Ich trete einen von ihnen in die Seite. »Aufstehen!«
    Langsam rappeln sie sich auf.
    Ich starre sie an, ein irres Grinsen im Gesicht. »Wir schaffen es runter ins Tal. Mir nach!«
    An der Spitze der Gruppe stapfe ich durch den Schnee bis zu der Schneise, die die zweite Lawine geschlagen hat, und weiter bis zum Baum. Mit dem Nanomesser an meinem Universalwerkzeug schneide ich ein Stück von der Schnur ab, die etwas weiter unten in der Tiefe verschwindet. Am anderen Ende wartet mein toter Pod. Ich frage mich, ob ich ihn wie Hagar Julian ausgraben könnte, und mache einen tastenden Schritt auf die weißgraue Fläche. Sofort grollt es unter mir, der Boden unter meinen Füßen regt sich, über mir kommt Bewegung in den Berg. Der Schnee hat sich noch nicht gesetzt, und es kann jederzeit weiterer fallen. Das Risiko ist zu groß. Und ich darf mir nichts vormachen – ich würde sowieso zu spät kommen. Kein Zweifel, die Luft ist ihnen längst ausgegangen. Wäre ich ihnen sofort zu Hilfe geeilt, hätte ich mich sofort an der Schnur entlanggehangelt, nachdem der Sturzbach zum Stillstand gekommen war, hätte ich sie vielleicht noch retten können. Doch daran habe ich nicht gedacht, und Quant konnte mich nicht auf die mangelnde Logik meiner Entscheidungen hinweisen. Eine Welle der Verbitterung überflutet mich, aber ich schüttle sie ab. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen, muss mich um die drei Überlebenden kümmern.
    Ich binde uns mit der Spinnenseide aneinander und übernehme wieder die Führung, den Hang hinunter ins Tal. Bis auf das fahle Mondlicht, das stellenweise durch die Wolkendecke dringt und vom Schnee reflektiert wird, ist es stockdunkel. Der seitliche Abhang und vereinzelte gähnende Abgründe sind leicht auszumachen, aber wir müssen auch mit tückischen Felsspalten rechnen. Trotzdem, auf den Beinen zu bleiben ist immer noch besser, als im Schnee einzuschlafen.
    Als wir auf einen jähen Absturz stoßen, mache ich sofort kehrt und schlage einen anderen Weg ein, damit die drei gar nicht erst in die verlockende Tiefe blicken können.
    Langsam frage ich mich, ob es überhaupt einen Weg ins Tal gibt. Vielleicht ist diese Gegend nur aus der Luft zu erreichen, schließlich wurden wir heute Morgen per Aircar hierhergebracht. Ja, vielleicht werden wir nie einen gangbaren Pfad finden. Oder, schlimmer noch, wir kommen einer Lawine in die Quere und ersticken ebenfalls.
    Mittlerweile schneit es ununterbrochen, manchmal versinken wir bis zu den Hüften im Schnee. Aber die Anstrengung tut gut, sie wärmt uns auf. Bewegung heißt Leben, anhalten und schlafen wäre der Tod.
    Ein Baum gleicht dem anderen. Hoffentlich stolpern wir nicht im Kreis herum, denke ich, aber eigentlich müssten wir doch irgendwann ins Tal kommen, wenn wir immer weiter bergab gehen. Auf dem Boden sind keine Spuren zu erkennen, weder von Mensch noch von Tier. Bis wir hindurchtrampeln, ist der Schnee makellos glatt.
    Ein Ruck an der Schnur. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass die Letzte in unserer Reihe hingefallen ist, die Julian mit dem gebrochenen Arm.
    Ich laufe zurück und lege sie mir über die Schulter. Verglichen mit dem Schmerz in meinem Inneren ist ihr Gewicht bedeutungslos. Sechzig Kilo, was ist das schon? Dennoch kommen wir jetzt nicht mehr so schnell voran.
    Und trotzdem fallen die anderen beiden ständig zurück. Ich lasse sie ab und zu ausruhen, treibe sie aber immer wieder an, ehe sie einschlafen. Bis ich selbst so müde bin, dass ich kurz die Augen schließe.
    Aber nur für einen Moment, dann bin ich wieder hellwach. Schlafen ist der Tod. Ich scheuche die drei hoch, es geht weiter.
    Die drei. Für mich sind sie kein Pod mehr, sondern eine Zahl. Und wie denken sie über mich? Was bin ich für sie? Ein Singleton? Der Alleinstehende? Ein Trio hat noch gewisse Chancen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Ein Singleton nicht.
    Nach dem Exodus der Community, nach ihrer plötzlichen und endgültigen Abkehr vom Ring und von der Erde, haben die Pods die Kontrolle übernommen. Bis heute kümmern sie sich um unseren Planeten, auch um die verbliebenen »normalen« Menschen, die Singletons, lauter rückwärtsgewandte Maschinenstürmer. Nur die Pods, früher eine Minderheit, nichts anderes als das Ergebnis eines biologischen Experiments, haben den Kataklysmus, die alles zerstörende Katastrophe, unbeschadet überstanden. Aber ich bin kein Pod
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher