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Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring
Autoren: Paul Melko
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Jacke des Fremden und presse, ohne zu wissen, ob ich durch die dicke Kleidung hindurch überhaupt etwas ausrichten kann. Als Nächstes schließe ich ihm die Nase mit den Fingern und beuge mich über ihn. Der Mann ist kalt, so kalt wie ein toter Fisch. Mein Magen dreht sich um, aber ich atme ihm trotzdem in den Mund, bevor ich die Herzdruckmassage fortsetze. Eins, zwei, drei …
    Ich wiederhole die Prozedur. Wenn ich ihn beatme, hebt sich die Brust jedes Mal ein Stückchen. Nach einer Minute halte ich inne und taste nach dem Puls. Da ist etwas, glaube ich – und weiß plötzlich nicht mehr, ob ich noch weitermachen soll. Bewegt sich das Zwerchfell von selbst, oder strömt die Luft, die ich ihm in die Lungen gepresst habe, nur langsam wieder aus, wie aus einem Blasebalg?
    Nein, ich darf jetzt nicht aufhören. Weiter!
    Ein Husten, ein Zucken, und diesmal bin ich mir sicher: Er atmet.
    Ich habe es geschafft!
    Der Puls ist schwach und flattrig, aber er ist eindeutig vorhanden.
    Darf ich den Julian bewegen? Kann ich ihn zum Aufwärmen ins Zelt bringen oder ist das zu gefährlich?
    Auf einmal höre ich das Surren eines Aircars. Hilfe naht, ich muss ihn nicht zu unserem Lager schleppen. Erleichtert lasse ich mich in den Schnee fallen. Ich habe es geschafft!
    Das Surren schwillt immer weiter an, bald sehe ich die Lichter des Aircars über dem Tal. Es wird lauter, immer lauter, zu laut. Ich frage mich, wie stabil der Schnee auf dem Grat über uns ist, ob das Kreischen des Antriebs eine weitere Lawine auslösen könnte.
    Aber ich habe keine Wahl, ich kann nur hierbleiben und warten. Das Aircar gleitet bis zum Rand unseres Lagers und landet im Schatten der Bäume.
    Langsam verklingt das Surren, aber der Krach lässt nicht nach. Und diesmal kommt er aus der Höhe. Oben auf dem Hang sehe ich ein Blitzen, das ich für den Suchscheinwerfer eines weiteren Aircars halte – bis mir auffällt, dass der Lärm überhaupt nicht nach dem Surren einer Wasserstoff verbrennenden Turbine klingt. Auf einmal erhebt sich ein dumpfes Grollen, und dieses Geräusch ist eindeutig: Die Schneemassen über mir haben sich in Bewegung gesetzt. Die erste Lawine hat sie gelockert, und nun geht es wieder los.
    Ich stehe auf. Was jetzt?
    Im nächsten Moment sehe ich die weiße Sturzflut. Im Scheinwerferlicht des ersten Aircars rast sie den Hang hinunter, direkt auf unser Lager zu.
    »Nein!« Ich renne ein paar Meter in Richtung meines Pods, bleibe aber gleich wieder stehen. Wenn ich ihn zurücklasse, wird dieser Julian sterben.
    Die Lawine flutet die Lichtung um unser Zelt und schwappt an den Bäumen hoch, die flirrenden Lichter des Aircars werden nach oben gerissen. Mein Pod! Mein Puls beschleunigt, meine Muskeln spannen sich. Ich gehe noch einen Schritt weiter.
    Das Grollen steigert sich zu einem mächtigen Dröhnen. Mein Blick schnellt hinauf zu den Schneeverwehungen über uns, vielleicht wird das Eis gleich mich und den Julian unter sich begraben. Nein – die erste Lawine hat einen kantigen Felsvorsprung freigelegt, der uns vor dem zweiten Abgang schützt. Zwanzig Meter weiter rauscht der Sturzbach ununterbrochen in die Tiefe, aber er kommt nicht näher. Dabei hätte ich nichts dagegen gehabt, mit in den Tod gerissen zu werden. Mein Hals schnürt sich zusammen, bis ich kaum noch atmen kann. Mein Pod ist tot.
    Auf einmal sehe ich eine schlängelnde Bewegung unter mir, und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, der Schnee wolle mich den Hang hinauftreiben. Bis es mich plötzlich von den Füßen reißt.
    Erst als ich über Eis und Geröll geschleift werde, begreife ich, dass der Spinnenseidefaden noch immer an meinem Anorak befestigt ist, sich um meine Taille schlingt – während das andere Ende an unserem Zelt hängt. Fünf Meter, zehn, zwanzig, immer schneller zieht es mich den Hang hinunter. Ich versuche, den Knoten zu lösen, ich taste nach der Schlinge, die die verzwirbelten Fäden entwirrt, aber meine aufgescheuerten, tauben Hände rutschen immer wieder ab.
    Die Schnur zerrt mich herum, ich krache aufs Gesicht, irgendetwas donnert gegen meine Nase. Die nächsten paar Meter bekomme ich kaum mit, aber ich begreife noch, dass der Sturzbach aus Schnee nicht mehr weit sein kann. Weiter oben hatte ich noch gedacht, er werde sich allmählich verlangsamen, aber aus der Nähe hat die Flut aus Stein und Eis nichts von ihrer Gewalt verloren.
    Verzweifelt rapple ich mich auf, falle hin, rapple mich wieder auf und hechte in Richtung Lawine, um den Faden zu
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