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Der Pakt der Liebenden

Der Pakt der Liebenden

Titel: Der Pakt der Liebenden
Autoren: John Connolly
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River war jetzt allerdings geschlossen, und neben den eher zweckmäßigen Autowerkstätten und Möbelgeschäften gab es auch Läden, die Kunsthandwerk und teure Geschenke verkauften.
    Mir kommt es heute so vor, als hätte ich meine ganze Kindheit in Pearl River verbracht, aber das war nicht der Fall. Wir zogen hin, als ich fast neun war und mein Vater die langen Pendlerfahrten in die Stadt satt hatte, denn vorher wohnten er und meine Mutter für billiges Geld in einem weiter im Norden des Staates gelegenen Haus, das ihm seine Mutter nach ihrem Tod hinterlassen hatte. Für ihn war das besonders schwer, wenn er eine Woche lang die Tour von acht bis vier Uhr hatte, die eigentlich um sieben anfing und um halb vier Uhr endete. Er musste dann um fünf Uhr morgens aufstehen, manchmal sogar noch früher, um rechtzeitig im Neunten zu sein, einem Revier, das knapp zweieinhalb Quadratkilometer an der Lower East Side einnahm und mit bis zu fünfundsiebzig Tötungsdelikten im Jahr als besonders gewalttätig galt. In diesen Wochen sahen ihn meine Mutter und ich kaum. Nicht dass die anderen Touren in dem jeweils sechswöchigen Turnus viel besser gewesen wären. Er musste eine Woche von acht bis vier Uhr arbeiten, eine von vier bis Mitternacht, eine weitere von acht bis vier Uhr, zwei Wochen von vier bis Mitternacht (in diesen Wochen sah ich ihn nur am Wochenende, weil er noch schlief, wenn ich morgens zur Schule ging, und bereits im Dienst war, wenn ich zurückkehrte), und eine obligatorische Woche von Mitternacht bis acht Uhr, die seine innere Uhr so durcheinanderbrachte, dass er am Ende vor Müdigkeit fast umfiel.
    Die Cops im Neunten Revier arbeiteten nach einem sogenannten »Neun-Trupps-Plan«, neun Trupps zu je neun Mann, jeder mit einem Sergeant, ein System, das aus den fünfziger Jahren stammte und in den Achtzigern abgeschafft wurde, wodurch viel von der Kameradschaft verlorenging, die es hervorgebracht hatte. Der ­Sergeant meines Vaters im ersten Trupp war ein gewisser Larry ­Costello, und von ihm kam der Vorschlag, dass mein Vater über einen Umzug nach Pearl River nachdenken sollte. Dort wohnten all die irischen Cops, in einer Stadt, in der angeblich der nach Manhattan zweitgrößte Umzug zum St. Patrick’s Day stattfand. Außerdem war sie vergleichsweise reich, konnte auf ein Durchschnittseinkommen verweisen, das etwa doppelt so hoch war wie im übrigen Land, und strahlte anheimelnden Wohlstand aus. Deshalb gab es dort so viele Cops außer Dienst, dass man einen Polizeistaat hätte aufbauen können; die Stadt hatte Geld und ihre eigene Identität, die durch die gemeinsame Herkunft geprägt war. Mein Vater war zwar nicht irischer Abstammung, aber er war Katholik, kannte viele der Männer, die in Pearl River wohnten, und fühlte sich unter ihnen wohl. Meine Mutter hatte nichts gegen einen Umzug einzuwenden. Wenn sie dadurch mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen konnte und der Druck und der Stress, die sich mittlerweile in seinem Gesicht abzeichneten, weniger würden, wäre sie auch in ein mit einer Plane abgedecktes Loch im Boden gezogen und hätte das Beste daraus ­gemacht.
    Folglich zogen wir nach Süden, und weil alles, was danach in unserem Leben schiefging, für mich mit Pearl River verbunden war, beherrschte die Stadt die Erinnerungen an meine Kindheit. Wir kauften uns ein Haus an der Franklin Avenue, ganz in der Nähe der Ecke John Street, wo noch immer die United Methodist Church steht. Es war renovierungsbedürftig, wie Makler so etwas zu bezeichnen pflegen: Die alte Frau, die den Großteil ihres Lebens darin gewohnt hatte, war kurz zuvor gestorben, und nichts deutete darauf hin, dass sie in dem Haus seit 1950 viel gemacht hatte, außer gelegentlich die Böden zu fegen. Aber es war ein größeres Haus, als wir uns ansonsten hätten leisten können, und irgendetwas an den nicht vorhandenen Zäunen, den offenen Gärten zwischen den Grundstücken an der Straße, gefiel meinem Vater. Es vermittelte ihm ein Gefühl der Weitläufigkeit, der Zusammengehörigkeit. Von der Meinung, dass gute Zäune gute Nachbarn ergeben, hielt man in Pearl River nicht viel. Stattdessen gab es Leute in der Stadt, die Zäune leicht beunruhigend fanden: ein Zeichen der Abkapselung, der Andersartigkeit.
    Meine Mutter stürzte sich in das städtische Leben. Wenn es irgendwo ein Komitee gab, gehörte sie ihm an. Für eine Frau, die mir in meinen frühesten Erinnerungen an sie so selbstgenügsam und distanziert gegenüber ihresgleichen vorkam,
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