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Der Pakt der Liebenden

Der Pakt der Liebenden

Titel: Der Pakt der Liebenden
Autoren: John Connolly
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war das eine erstaunliche Verwandlung. Vermutlich fragte sich mein Vater, ob sie eine Affäre hatte, aber es war nichts anderes als die natürliche Reaktion einer Frau, die einen besseren Wohnort gefunden hatte und deren Mann ebenfalls zufriedener war als vorher, auch wenn sie sich immer noch jeden Tag Sorgen machte, wenn er das Haus verließ, und ihre Erleichterung kaum verhehlen konnte, wenn er nach seiner Tour unversehrt heimkam.
    Meine Mutter: Jetzt, da ich mir unser Leben an diesem Ort genauer vornahm, kam mir meine Beziehung zu ihr zusehends weniger normal vor, falls man dieses Wort für das Zusammenleben einer Familie überhaupt verwenden kann. Manchmal schien sie sich nicht nur von ihresgleichen abzukapseln, sondern distanzierte sich auch häufig von meinem Vater und mir. Es war nicht so, dass sie uns ihre Zuneigung vorenthielt oder mich nicht gern hatte. Sie war begeistert über meine Triumphe und tröstete mich bei meinen Niederlagen. Sie hörte zu, beriet und liebte mich. Aber den Großteil meiner Kindheit über reagierte sie nur auf meine Initiative hin. Wenn ich zu ihr kam, machte sie all diese Dinge, aber sie gingen nie von ihr aus. Es war, als wäre ich eine Art Experiment, ein Wesen in einem Käfig, etwas, das man überwachte und beobachtete, das gefüttert und getränkt werden musste, Zuwendung und Anregungen brauchte, damit für mein Überleben gesorgt war, aber mehr nicht.
    Doch vielleicht spielte mir meine Erinnerung auch nur Streiche, als ich den Matsch im Stausee der Vergangenheit aufwühlte, um mir dann, als sich der Dreck wieder gesetzt hatte, einen Weg über den Grund zu bahnen und nachzusehen, was zum Vorschein gekommen war.
    Nach den tödlichen Schüssen und allem, was noch folgte, flüchtete sie gen Norden, nach Maine, und nahm mich mit in den Ort, in dem sie aufgewachsen war. Bis zu ihrem Tod – sie starb, als ich noch auf dem College war – weigerte sie sich, über irgendwelche Einzelheiten der Geschehnisse zu sprechen, die zum Tod meines Vaters geführt hatten. Sie hatte sich in sich zurückgezogen, aber dort nur den Krebs gefunden, der ihr das Leben nahm, nach und nach ihre Zellen befiel wie schlechte Erinnerungen, die alle guten vernichten. Heute frage ich mich, wie lange er gelauert hatte, wenn eine schwere seelische Verletzung irgendwie zu einer körperlichen Reaktion geführt haben sollte, so dass sie an zwei Fronten im Stich gelassen wurde: von ihrem Mann und von ihrem eigenen Körper. Wenn dem so war, dann begann der Krebs sein Werk in den Monaten vor meiner Geburt. Auf meine Weise war ich ebenso der Auslöser gewesen wie das Verhalten meines Vaters, denn das eine war eine Folge des anderen.
    Das Haus hatte sich nicht sehr verändert, auch wenn die abblätternde Farbe, die Rußschlieren an den oberen Fenstern und die zerbrochenen Schindeln, die wie dunkle, angeschlagene Zähne wirkten, von einer gewissen Vernachlässigung kündeten. Die graue Farbe war heller als zu unserer Zeit, aber der Garten war nach wie vor nicht eingezäunt, genau wie die der Nachbarn. Die Veranda war mit Fliegendraht umspannt, und ein Schaukelstuhl und eine Rattancouch, beide ohne Polster, standen der Straße zugewandt. Die Fenster- und Türrahmen waren jetzt schwarz gestrichen, nicht mehr weiß, und wo einst sorgfältig gepflegte Blumenbeete gewesen waren, war jetzt nur eine Rasenfläche mit kargem, ums Überleben kämpfendem Gras, soweit das durch den gefrorenen Schnee zu sehen war. Ansonsten war der Ort immer noch als der zu erkennen, wo ich aufgewachsen war. Ein Vorhang bewegte sich an unserem früheren Wohnzimmer, und ich sah einen alten Mann, der neugierig zu mir schaute. Ich nickte kurz wie zum Gruß, worauf er zurückwich.
    Über der Haustür war ein Doppelfenster, dessen eine Scheibe zerbrochen und mit Karton geflickt war. Dort konnte ein Junge sitzen und auf die kleine Stadt hinausblicken, die seine Welt war. Irgendetwas von mir war nach dem Tod meines Vaters in diesem Zimmer zurückgeblieben, eine gewisse Unschuld vielleicht oder die letzten Reste meiner Kindheit. Sie waren mir durch einen Schuss genommen worden, der mich gezwungen hatte, sie abzustreifen wie eine Reptilienhaut oder den Puppenpanzer eines Insekts. Ich konnte ihn fast sehen, diesen kleinen Geist: eine Gestalt mit dunklen Haaren und schmalen Augen, zu introvertiert für sein Alter, zu einsam. Er hatte Freunde, hatte aber nie das Gefühl überwinden können, dass er sich aufdrängte, wenn er sie besuchte, und dass sie ihm nur
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