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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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getan habe, unmöglich geworden.
    Und natürlich war das ganze Gespräch, weil ich ja nur im Geiste mit ihm sprach, ein Monolog, und der handelte allein von mir. Abschottung, Distanziertheit, Lähmung, Furcht – all das, was die Leute auf meine glatte weiße Oberfläche projizierten, spielte bei dem, was sich ereignete, nachdem der Unfall mir Frau und Tochter genommen hatte, keine Rolle. Alles geschah trotz seiner völligen Unmöglichkeit. So auch mein Entschluss, an diesem Tag bei Heidi Franklin in der Kunsthochschule vorbeizuschauen.
    Der Eingang zum Kunstseminar lag auf der gegenüberliegenden Seite eines gepflasterten Hofes, fast eines Patios, von dem aus man auch das Museum betrat. Indem ich bei der Eiseskälte über dieses Pflaster ging, ja indem ich die festen Abläufe, die ich mir auferlegt hatte, durchbrach und eine Frau besuchte, tat ich nichts Besonderes, erweckte schon gar nichts Abgestorbenes in mir zum Leben. Das hätte ich vielleicht drei Jahre zuvor angenommen, als ich meine Lähmung noch mit einfacher Trauer verwechselt hatte. Aber einfach war die Sache nicht.
    Am Tag des Unfalls ließ mein Nachbar Anne und Elsie, meine Frau und meine Tochter, vor unserem Haus in sein Auto einsteigen und wendete in Richtung Highway. Ich winkte ihm, anzuhalten, und beugte mich zum Fahrerfenster hinunter. In der Nacht davor hatte es einen Eissturm gegeben. Die Straßen waren gefährlich. Ich fand, er sollte die geschotterte Abkürzung in die Stadt nehmen, fand, er sollte sich von den Schnellstraßen fernhalten. Er hatte doch schon in die richtige Richtung gestanden, und nun hatte er gewendet. «Nehmen Sie nicht einfach den direkten Weg in die Stadt?» – «Nein, wegen der Bauarbeiten.» – «Es ist Sonntag», sagte ich zu dem alten Mann, «da wird nicht gearbeitet.»
    Jeder kannte unseren Nachbarn General Neally, einen seit vielen Jahren pensionierten Air-Force-Angehörigen (und übrigens Witwer), als energischen Südstaaten-Gentleman, der Tennis spielte und seine Memoiren schrieb. Aber in letzter Zeit war er gebrechlich geworden, fand ich. Als ich ihn einmal in seinem Cadillac aus seiner Einfahrt zurücksetzen und, offenbar eher verwirrt als vorsichtig, an der Straße von rechts nach links, von rechts nach links und wieder von rechts nach links schauen sah, fragte ich mich, ob er eigentlich noch Auto fahren sollte. Nur ein paar Wochen vor dem Unfall waren der General und ich uns eines Morgens an den Briefkästen begegnet, und er hatte mich auf einen Kaffee in seine Küche eingeladen. Während er mit dem vollen Kaffeefilter hantierte, wurde er still, kratzte sich am Schädel, wandte sich zu mir um und sagte völlig überrascht: «Was wollen Sie hier überhaupt!» All das ging mir durch den Kopf, als ich an seinem Wagen stand, ohne meine Familie neben ihm eines Blickes zu würdigen – daran erinnere ich mich oft: Ich hätte ihnen ein letztes Mal ins Gesicht sehen können, habe es aber nicht getan –, und zu ihm sagte: «Nehmen Sie die Schotterstraße, das ist kürzer.» – «Ich mag den breiten Highway lieber», sagte er. Und fuhr davon. Da stand ich, und mir lag ein letzter Satz – «Nehmen Sie die Schotterstraße. Das ist sicherer» – auf der Zunge. Auf der Zunge. Noch heute spüre ich ihn im Mund. Hätte ich ihn bloß ausgesprochen. Selbst wenn der General meinen Rat wieder in den Wind geschlagen hätte, hätte ihn der Wortwechsel ein paar Sekunden länger aufgehalten, und vielleicht wären sie dann alle noch am Leben. In den schrecklichen nächsten Wochen tischte mir meine Phantasie noch anderes auf, was ich hätte tun können. Ich hätte sie zu Hause behalten, ihnen ein Taxi rufen oder unseren eigenen Wagen ein paar Tage später in die Werkstatt bringen können – er war nur zur Inspektion dort, wegen der Garantie. Ich hätte mir einen Zweitwagen anschaffen können … aber wir brauchten keinen, jeden Tag fuhr ich mit der Limousine des Senators nach Washington hinein. Also sagte ich nichts, und sie fuhren weg.
    Nach gut acht Kilometern kam der General an ein Stoppschild, trat auf die Bremse und schlitterte in die Fahrbahn eines herannahenden Lieferwagens, der sechzig fuhr. (Der Wagen eines Floristen. Ich weiß nicht, ich habe mir den Unfallort nicht angesehen, aber ich nehme an, überall lagen Blumen verstreut.) Anne und Elsie waren sofort tot. Der General lebte noch vierundzwanzig Stunden, wachte aber nicht mehr auf. Mögen sie alle in Frieden ruhen.
    An diesem Wintertag genau vier Jahre später ging ich
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