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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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nahm Notiz von mir. Die Studenten passten, wie das Publikum bei einer Anatomiestunde, sehr genau auf und stellten eine entsprechend klinisch kalte, wenn nicht gar abgestumpft wirkende kollektive Miene zur Schau: Sie war Künstlerin, weiter nichts. Warum sie das hier «Cannon-Performance» nannten, konnte ich mir nicht zusammenreimen.
    Dicht neben mir stand der Dozent, ein kleiner, gedrungener Mann in Jeans und einem roten Sweatshirt. Er sah zäh und durchsetzungsfähig aus, aber gerade jetzt fehlten ihm die Worte. Vermutlich fühlte er sich auch nicht so zäh. Ich bin nie mit ihm ins Gespräch gekommen, weder dort noch später, und konnte ihn nicht danach fragen.
    Als die Veranstaltung vorüber war – oder jedenfalls diese Performance endete, indem sich die Künstlerin mit einem weißen Gästehandtuch die feuchten Schaumreste abwischte, die Beine schloss, den Saum ihres blauen T-Shirts herunterzog und mit der freien Hand nach ihrer Jeans tastete, während sie das Handtuch beiseitelegte und wieder Leben in den Raum kam –, ging ich. Ich trat auf den Hof voller Metallskulpturen hinaus und bewegte mich von Figur zu Figur, wobei ich sie mit einem solchen Ingrimm fixierte, dass ich mir irgendwann eines nadelspitzen Schmerzes zwischen den Augenbrauen bewusst wurde. Die Skulpturen schienen mir allesamt bleiern, plump und nichtssagend zu sein. Und Sie können mir wirklich glauben, dass ich Heidi Franklin restlos vergessen hatte.
    Aus reiner Gewohnheit ging ich in Richtung des Juristischen Seminars davon. Was hatte ich da nur mit angesehen? Der Sinn der Performance war mir nicht aufgegangen, aber gewirkt hatte sie wie ein Schlag ins Gesicht, und ich stand am Schlittschuhteich und umklammerte mit bloßen Händen das kalte Geländer, verwirrt von der Jugend um mich herum, und das nicht zum ersten Mal auf diesem Campus. Der Teich war von einer Wolke bedeckt, die vom Eis aufstieg, die Insel in der Mitte kaum zu sehen. Und bedrohlich. Etwas sich unheilvoll Näherndes, geisterhaft Dräuendes, das Gespensterschiff aus den Seemannslegenden.
    Eine halbe Stunde lang beobachtete ich die jungen Schlittschuhläufer und versuchte sie mit dem zusammenzubringen, was ich gerade gesehen hatte. Aber schon dieser Versuch trug Züge einer leichten Hysterie. Eine «Cannon-Performance»? Ich fühlte mich in der Tat wie von einer Kanonenkugel getroffen.
    Hier und jetzt hatte ich ein anderes kraftvolles Bild vor Augen – Jugend, Frische, Energie, der sprichwörtliche Lebensatem deutlich sichtbar vor dem Mund –, ein filmisches Bild, das aus dem Nebel auf mich zukam, scharf und schärfer werdend, dann befremdlich. Leuchtende Farben, Atemstöße, Worte und Gelächter und das Schleifgeräusch der Kufen, und dann verging das alles, wurde zu nichts. Denn andererseits schienen dieselben Jugendlichen nicht Leben, Jugend und Spiel zu symbolisieren, sondern Drill. Alle in Reih und Glied und in einer Richtung, ein Training fürs Marschieren. Die Gesichter wechselten, aber das Kreisen ging weiter, und das Kreisen erinnerte an die Zeichnung des Sklaven, die mich so ergriff, an die Linie, die ihrem Vorbild nachstrebte, bis sie nicht mehr missglückte Nachahmung, nicht mehr unbeabsichtigte Parodie war, sondern versinnbildlichte schreiende Ignoranz.
    Ich selbst stand, da ich noch immer das Geländer umklammerte, vorgebeugt wie ein Schlittschuhläufer, und plötzlich erfüllte mich ein Gefühl der Richtigkeit und Wahrheit – durchflutete mich und ließ mich beruhigt im Kielwasser einer Einsicht zurück: Ich erkannte, dass jeder dieser Schlittschuhläufer mein Gesicht hatte.
    Genau vier Jahre lang war ich um meine Vergangenheit herumgekreist wie sie. Ein sich im Nebel fortbewegendes Gespenst. Hatte den großen, verhüllten Monolithen umfahren, ihm gehuldigt und gedient. War beinahe täglich zu der Zeichnung des Sklaven zurückgekehrt wie ein entstellter Schauspieler, der sich immer wieder vom Mysterium seines Gesichts im Spiegel angezogen fühlt. Nun wurde mir die Lektion der Zeichnung klar: Während ich mich wieder und wieder im Kreis drehte, entfernte ich mich weiter und weiter von seinem Mittelpunkt, hatte mein Kurs mit seiner ursprünglichen Bahn immer weniger zu tun. Schon seit langem machte mir die Ursache meiner Trauer kaum noch zu schaffen. Eigentlich war ich ziemlich befreit davon. Und doch blieb ich ihr treu ergeben.
    Nichts hielt mich. Ich brauchte nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, und eines Tages würde ich mich weit genug von meiner dunklen,
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