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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter
Autoren: Judith W. Taschler
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer (19 Jahre)
    Ich bin gerade neunzehn geworden, am 24. Dezember. Ich habe so lange drauf gewartet, so lange!
    Wenn sie mir auf die Nerven gegangen sind, meine Eltern, meine Geschwister – überhaupt ist mir mein ganzes Leben oft auf die Nerven gegangen! –, dann habe ich mir gesagt: Halte durch! Wenn du neunzehn bist, bist du frei! Frei! Dann kannst du machen, was du willst! Du kannst dein eigenes Leben führen!
    Ich wollte im Frühling nach Innsbruck ziehen, dort eine Arbeit suchen und die Abendmatura machen. Ich habe schon angefangen ein Zimmer zu suchen. Natürlich habe ich selber gesucht!
    Das Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied«, das kennen Sie doch, ich bin bis vor Kurzem der Meinung gewesen, dass es stimmt! Ich habe mir gedacht, wenn ich erst mal von Sölden wegkomme und auf meinen eigenen Füßen stehe, dass ich alles erreichen kann, was ich mir vornehme. Auf mein Leben habe ich mich so gefreut! Auf mein Leben – !
    Aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob das Sprichwort stimmt. Seit – seit dem Tag, ich meine, seitdem das alles passiert ist und ich die Wahrheit
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kenne, seither glaube ich nicht mehr dran. Ich kann nicht mehr essen und nicht mehr schlafen seither!
    Ich habe Angst, dass das Sprichwort nicht stimmt! Jetzt auf einmal habe ich Angst, dass ich nicht alles erreichen kann, was ich mir vornehme! Dass ich bin wie – dass das Ganze wie ein Schatten über meinem Leben hängen wird! Dass es mich immer verfolgen wird.
    Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass manche Menschen einfach immer auf der Schattenseite stehen und davon nicht wegkommen, egal wie sehr sie sich abstrampeln.
    Das hat jemand zu mir gesagt, vor ein paar Jahren, im Winter, so ein alter Mann ist das gewesen, den habe ich einmal aufs Zimmer bringen müssen, weil er betrunken war. Er hat gesagt: Es gibt Menschen, die bis zu ihrem Tod auf der Schattenseite des Lebens stehen und nie auf die Sonnenseite gelangen. Weil es ganz einfach Schicksal ist und der Wille alleine nichts zählt, hat er noch gesagt.
    So ein Trottel, habe ich mir damals gedacht. Jetzt denke ich mir, dass er recht gehabt hat.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Manuela Winter (19 Jahre)
    Ich scheiß auf die Mutter, ich scheiß auf sie! Sie hat mich angebrüllt im Krankenhaus, als wäre ich der Verbrecher und nicht – ! Sie kapiert nichts von dem, was eigentlich passiert ist!
    So eine fette Krankenschwester hat sie dann aus dem Zimmer gebracht. Und jetzt redet sie nicht mehr mit mir. Sie gibt nur mir die Schuld, weil ich der Polizei alles erzählt habe. Der Alex hat ja nichts erzählen können. Der ist ja auf der Intensivstation gelegen. Hat sich am Anfang an gar nichts erinnert.
    Ich habe es ja sagen müssen, oder nicht? Verdammte Scheiße, hätte ich vielleicht nichts sagen sollen? Ich habe es für den Alex getan!
    Ich brauche keine Therapie. Hauen Sie ab. Ich habe genug reden müssen, die letzten Tage mit der Polizei.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
    Ich soll also ganz spontan ein Erlebnis aus meiner Kindheit erzählen, das mich beeindruckt hat und das mir lange in Erinnerung geblieben ist?
    Die Sache mit dem Frosch hat mich so beeindruckt und auch lange nicht losgelassen. Ich habe ständig daran denken müssen, tagelang.
    Acht oder neun bin ich gewesen, da habe ich angefangen, viel mit dem Georg rumzuhängen. Der Georg ist in die gleiche Klasse wie ich gegangen und hat mir imponiert, weil –, weil er einfach so – so lässig gewesen ist. Er hat sich nichts geschissen. Nicht einmal vor seinen Eltern hat der Angst gehabt, eher umgekehrt, und deshalb haben sie ihn auch in Ruhe gelassen. Ich wollte mir was abschauen von ihm.
    An dem einen Nachmittag, es ist, glaube ich, im Juni oder Juli gewesen, auf alle Fälle ist es ziemlich warm gewesen, hat er einen Frosch gefangen und ihn auf ein Brett genagelt. – Sie haben schon richtig verstanden. Er hat ihn auf ein Brett genagelt, so wie Jesus, vier Nägel in die beiden Hände und Füße. Ich weiß nicht, ob man bei einem Frosch Hände und Füße sagt, Pfoten sind es ja auch keine, aber
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Sie wissen schon, was ich meine. Zwei Nägel oben, zwei Nägel unten. Er hat ihn gekreuzigt.
    Genauer? Also, wir haben am Bach gespielt, ich weiß nicht mehr, was, wahrscheinlich Staudamm bauen oder so. Auf einmal hat der Georg den Frosch gesehen und ihn gefangen. Ganz schnell ist das gegangen, mir wäre er
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