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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter
Autoren: Judith W. Taschler
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Überhaupt habe ich gern gelesen. Viele Buben haben sich lustig über mich gemacht, weil mir das getaugt hat. Lesen ist uncool gewesen.
    Beim Kurrentschriftlesen sind mir dann die alten Tagebücher eingefallen, und die wollte ich schon immer lesen. Im Schlafzimmer der Eltern steht eine große Kommode, und in der untersten Schublade hebt die Mutter wichtige Sachen auf, zum Beispiel die Hochzeitskerze, das Hochzeitsalbum, die Taufkerzen, alte Fotos von den Großeltern und so andere Sachen, auch die Tagebücher. Für uns Kinder ist das alles verboten gewesen, überhaupt haben wir nicht ins Schlafzimmer dürfen.
    Aber keiner aus der Verwandtschaft hat sie gelesen gehabt! Die Mutter hat früher, wie sie noch jung gewesen ist, ein Heft einmal kurz überflogen, mehr nicht. Sie hat gesagt, sie weiß ja sowieso, was drinsteht, weil die Geschichten immer erzählt worden sind. Das hat auch gestimmt. Wir Kinder haben auch die Geschichten immer gehört, zuerst von der Oma und später von der Mutter selber oder von der Tante.
    Ich bin ganz narrisch auf die Geschichten gewesen. Vor allem die vom Zingerle Josef hat mir gefallen, das ist der Urgroßvater von der Mutter gewesen. Von dem haben sie so viel erzählt, alle, er hat nämlich
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beim Andreas Hofer mitgekämpft und dabei viel erlebt. Er ist bei allen vier Bergiselschlachten dabei gewesen und hat elf Franzosen und Bayern erstochen mit seinem Bajonett und ist deswegen als Held gefeiert worden. Für mich ist er so ein Superheld gewesen, wie ich klein war.
    Die Mutter und die Tante haben sich was eingebildet auf ihren Urgroßvater. Einmal ist die Mutter bei einer Silvesterfeier leicht angeduselt gewesen, sie hat zu viel Sekt getrunken gehabt. Da hat sie einem Gast von dem Zingerle Sepp, ihrem Urgroßvater, vorgeschwärmt. Sie hat auch gesagt, dass sie aus einer waschechten Tiroler Familie kommt, die seit Generationen in dem Tal ansässig ist, die immer die Traditionen gepflegt hat und dass sie stolz drauf ist. Oder so ähnlich.
    Ich wollte unbedingt alles über die Vorfahren lesen und wissen. Ich habe damals gedacht, wenn ich alles genau über die weiß, also mehr weiß als die anderen in der Familie, dann gehöre ich so richtig dazu! Das wollte ich früher unbedingt, ganz dazugehören! So fest habe ich mir das gewünscht.
    Ich bin also in das Schlafzimmer geschlichen und habe vorsichtig die unterste Lade aufgemacht. Dann habe ich herumgekramt da drin, das hat mir Spaß gemacht! Ich habe die alten Hochzeitsfotos lustig gefunden, da schauen alle so ernst drein, als wär’s ein Begräbnis.
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Und dann habe ich auf einmal den Zeitungsartikel gefunden. Er ist ganz auf dem Boden der Schublade gelegen. Unter dem Artikel ist das Foto von einer jungen Frau gewesen. Jemand hat mit der Hand das Datum unten draufgeschrieben, es war irgendwann im Mai 73. Ich habe ihn gelesen, eine Frau ist einfach spurlos verschwunden, wahrscheinlich ist sie ausgewandert. Das Foto hat mir gefallen und überhaupt – ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Die Frau ist mir so bekannt vorgekommen, ich habe mich so komisch gefühlt beim Anschauen. Dann habe ich den Artikel wieder zurückgelegt und mir gesagt, es wird eine Freundin der Mutter gewesen sein.
    Ich habe also die Hefte aus der Kommode genommen und sie unter meiner Matratze versteckt. Keiner hat das wissen dürfen. In der Nacht, wenn die Manu geschlafen hat, habe ich sie rausgeholt und mit der Taschenlampe gelesen. Zuerst habe ich eine Weile gebraucht, bis ich die Handschrift habe entziffern können, aber dann bin ich immer schneller geworden.
    Ich habe mich jeden Tag drauf gefreut, dass ich in der Nacht lesen kann. Aber lange hat das nicht gedauert. Enttäuscht haben mich die Tagebücher! So enttäuscht.
    Die Frauen haben da ihren Kram aufgeschrieben, ihren Alltag, meine ich. Ich bin ja erst zehn gewesen
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und wollte natürlich was anderes lesen als von kranken Kindern oder vom Krauteinstampfen oder wie lang und hart der Winter ist oder wer wieder im Wochenbett gestorben ist. Über ihre Männer haben sie so gejammert und immer haben sie vom Herrgott geschrieben, dass er helfen soll, seitenlange Gebete sind das gewesen. Ich wollte von den Heldentaten lesen, wie das war, mit Heugabel und Bajonett die Franzosen bekämpfen, und wie der Andreas Hofer gewesen ist.
    Aber davon ist nichts dringestanden. Nur dass der Zingerle Sepp ein unguter Ehemann gewesen ist. Er hat so viel getrunken, ein richtiger Säufer war das, und er hat die Frau
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