Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
Vom Netzwerk:
Fetzen Maschinenpapier, den er mir gegeben hatte, folgten auf seinen Namen noch beinahe ein Dutzend andere.
    «Das sind meine Freunde im Zentrum. Im Schädeltrauma-Rehabilitationszentrum», sagte er. «Prüfen: das S-T-R-Z.»
    «Oh.»
    «Wir haben alle dieselbe Adresse. Prüfen.»
    «Verstehe.»
    «Das S-T-R-Z. Das S-T-R-Z. Das S-T-R-Z», sagte Robert Hicks.
    «Robert – fragt Sie eigentlich nie jemand, was Sie da in der Hand halten?»
    «Nicht allzu oft. Ab und zu mal.»
    «Und was ist es?»
    «Weiß ich nicht. Ich kann es nicht sehen. Es ist sehr leicht», sagte er.
    Er begann in mir unverständlichen Worten mit sich selbst zu reden und ging davon.
    Ich setzte mich auf die Bank einer Bushaltestelle, derselben Haltestelle, an der mich der Campus-Shuttle bei meiner Ankunft abgesetzt hatte, da ich kein Auto besaß, und beobachtete die orientierungslosen Spaziergänger – von denen so viele durch schlimme Unfälle dauerhaft orientierungslos geworden waren –, beobachtete auf dem Gelände gut zwei Dutzend Leute, die sich fest darauf konzentrierten, nirgendwohin zu gehen. Ich war überzeugt, ich könnte die Patienten, diejenigen, die sich auf dem Weg der Besserung befanden, von Universitäts-Hochstaplern wie mir unterscheiden, die zwischen den Gebäuden dahintrotteten. Doch die verwandelte Luft, der pinkfarbene Sonnenuntergang, die weite, pockennarbige Fläche Schneematsch, von den grauen Balken der Gehwege durchzogen wie eine große, verblasste Konföderiertenflagge, die Leute, die krumm und schief darüber hinwegmarschierten, als wäre die Schlacht eben erst beendet … es wäre wohl nicht vermessen zu sagen, dass ich, als ich mit Mr. Hicks Liste von schädelverletzten Patienten in den Fingern dort saß, sogar Dinge in mir zum Leben erwachen spürte, die schon seit meiner Kindheit abgestorben waren, etwa jene kindliche Empfindung, eine Art Antenne zu sein, die inmitten eines grenzenlosen Spektrums von Möglichkeiten steht. Oder das der Kindheit eigene Staunen über Kleinigkeiten, das Sich-Vorkommen wie in einem immerwährenden Zirkus … wo man zufällig auf Kinder mit beachtlichen kleinen Talenten oder Merkmalen trifft, drei oder gar vier Reihen Zähne, Daumen mit zwei Gelenken. Ich will nicht behaupten, ich hätte diese längst vergangenen Tage sehr gemocht, dazu bargen sie zu viele lächerliche Schrecken, aber gleichwohl hatte dieses Universum einen in Begeisterung versetzen können, indem es, etwa so wie ein langer, leerer Strand eine hübsche Muschel, plötzlich einen Jungen hervorzauberte, dessen pubertierende große Schwester gern ihre nackten Brüste zeigte, oder einen anderen, der an einer Zigarette ziehen, Mund und Nase zukneifen und den Rauch durch die Ohren ausblasen konnte. Was war wohl aus ihnen geworden? Auch aus dem Jungen, dessen Hände eine optische Illusion waren? Sie sahen vernünftig proportioniert und vollständig aus, sie wirkten unauffällig, bis man genauer hinsah und feststellte, dass sich an jeder Hand nur drei Finger und ein Daumen befanden. Aber wenn Sie mich gefragt hätten: «Welcher Finger fehlte denn?», hätte ich mich nicht entscheiden können. Alle seine Finger schienen da.
    «Sehen Sie sich meine Hände an?», fragte mich J. J. auf der Fahrt in die Stadt. Ich hatte seine Fäuste angestarrt, die das Lenkrad seines Karmann Ghia hielten.
    Ich erzählte ihm von dem Jungen, den ich gekannt hatte. «Ist ja interessant», sagte er, aber ich glaube, eigentlich meinte er, es sei idiotisch, einzugestehen, dass einem dergleichen im Kopf herumging. Inzwischen vermutete ich, dass das, was ihm im Kopf herumging, die Scheidung war. Er machte einen abwesenden Eindruck, und wir redeten nicht viel, während er den klapprigen Sportwagen in die Stadt fuhr. Später, als wir in einem verlassenen Parkhaus ausstiegen, sagte er zu mir: «Meine Hände sind normal …» Ich hörte ein unausgesprochenes «Aber» und dachte, er wäre im Begriff, mich nun in irgendein groteskes Geheimnis über seinen Körper einzuweihen. Stattdessen schloss er seinen Oldtimer ab, indem er beide Türen einzeln verriegelte, und führte mich in ein Restaurant.
    Es gab welche, wo Studenten Pizza oder Rippchen, Burger oder Chinapfanne aßen, und es gab andere, die gegen alles, was jung war, Preisbarrieren errichtet hatten und in denen man sich in Ruhe unterhalten konnte. J. J. nahm mich in eins dieser ruhigen mit, einen kleinen Italiener, der sich dem Romantischen verschrieben hatte. Wir saßen vor einem frostbeschlagenen Fenster
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher