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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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kalten Sonne entfernt haben, dass ich sanft aus meinem Orbit ausscheren könnte.
    Ich machte den Gürtel meines Mantels zu, wenngleich unter Schwierigkeiten, denn meine Hände waren inzwischen taub vor Kälte. Ich schlang den Schal bis unters Kinn und zog meine Handschuhe an. Ich wandte mich von der Offenbarung ab und der Welt zu, begierig, Neues über mich zu erfahren. Was würde jetzt mit mir geschehen?
    Ich kann nicht sagen, dass mir der nächste Gedanke einfach so zugeflogen wäre, weil er in Wahrheit mein ständiger Begleiter war. Er drang jetzt nur an die Oberfläche, wie er es oft tat, weiter nichts: In ein paar Jahren wäre meine Tochter aufs College gegangen. Ich hätte mich für sie gefreut, wenn sie wirbelnd an diesem Geländer zum Stehen gekommen und in das süße Gelächter aus alten Fernsehfilmen ausgebrochen wäre. Vor allem hätte es mich für Elsie gefreut, wenn sie ein wenig so geworden wäre wie … aber ich konnte mich an den Namen der Cellistin nicht erinnern.
    Mein Eifer hielt eine Weile an, ein paar Tage, eine gute Woche. Dann, gedämpft von tiefhängenden grauen Wolken, von tiefen Temperaturen, ließ er nach. Aber ich wartete.
    Eine zarte Wetterwende Ende Februar wurde Anfang März von mehreren aufeinanderfolgenden Schneestürmen beendet. Die Meteorologen wussten sich nicht anders zu helfen, als ständig «Der Mittlere Westen liegt unter einer weißen Decke» zu wiederholen. In der Stadt nahm vieles die Brotlaibwölbungen alpiner Dörfer an, wie man sie von Fotos kennt. Die Schlittschuhläufer verzogen sich. Der Teich verschwand mitsamt dem Geländer unter mehr als einem Meter Schnee. Auch die roten Formen auf dem höchsten Punkt des Monolithen versanken darin. Dächer brachen ein, Fahrzeuge und Vieh wurden begraben, der Verkehr kam zum Erliegen, alle litten, und es ging schon auf Mitte April zu, als der Himmel aufklarte und die weißen Felder abzutauen begannen.
    Das Wetter besiegte jeden. Wegen der Probleme, der Verspätungen, geriet man mit allem in Rückstand. Als ich endlich dazu kam, J. J. Stein im Forum für interpretierende Wissenschaft aufzusuchen, hielt ich es für möglich, dass er längst vergessen hatte, mir je begegnet zu sein.
    Ich hatte den Forum-Komplex noch nie gesehen. Es war ein seltsamer Appendix unserer Universität ungefähr zehn Meilen außerhalb der Stadt, auf einem Gelände, wo zu Zeiten, als man es tatsächlich noch so bezeichnete, ein Irrenhaus gestanden hatte. Am Tag, als ich den Swan’s Grove Campus besuchte, fühlte sich das Wetter wie verwandelt an. Dem Winter fehlte es plötzlich an Biss, die Bürgersteige waren frei, die Straßen trocken. Der hohe Schnee auf den Feldern hatte, da er eingesackt war, Dellen bekommen, die hier und dort zu Kratern wurden, mit durchweichtem grauem Weideland auf dem Boden.
    «Der Hain», wie J. J. Stein den Campus nannte, war eine dieser akademischen Nischen, in die auf rätselhaften und verborgenen Wegen Staatsgelder fließen und die, so dachte ich, eines Tages ein findiger Behördenmitarbeiter entdecken und trockenlegen würde. Wie um den Komplex vor möglichen Angriffen gegen seine Bedeutungslosigkeit zu schützen, betrieb die Universitätsklinik dort draußen ein kleines Schädeltrauma-Rehabilitationszentrum. Zudem unterhielt in einem der alten Gemäuer, in denen einst der Wahnsinn residiert hatte, eine gemeinnützige Stiftung eine Druckerei. Dr. J. J.s Forum für interpretierende Wissenschaft hatte einen kleinen, L-förmigen Bau für sich.
    Er zeigte mir das ganze Gelände, indem er mich am Arm führte wie einen Hinfälligen. Auch andere waren draußen an der frischen Luft. Einige von ihnen sahen betrunken aus, wahrscheinlich Reha-Patienten. Wir besichtigten den Ulmenhain, nach dem der Ort benannt war, die verschiedenen Gebäude, den Bach, das Handballfeld. Nicht dass das notwendig gewesen wäre. Wir wollten nur im feuchten Sonnenschein spazieren gehen.
    Kaum unter der Decke des harten Winters hervorgekrochen, wirkte das alles trostlos. Wie kurz vor der Heimsuchung. Riesige, plumpe Krähen versammelten sich auf den kahlen Ästen der Ulmen. «Sieben Hektar», sagte J. J. Stein. «In den Dreißigern zum Schnäppchenpreis erworben. Die medizinische Forschungsanstalt hat hier jahrzehntelang Tierexperimente durchgeführt. Der große Schornstein da gehört zum Krematorium.» Er wies auf ungefähr dreißig Meter Ziegel, die aus einem kleinen Betongebäude ragten. Wir überquerten den Campus diagonal auf einem breiten, gepflasterten
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