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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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Hier und da im Nadelgehölz fielen Klumpen Schnee, an den Zweigen zerrend, von Ast zu Ast zu Boden. Wir hatten uns alle mit Mütze und Schal vermummt, alle außer der Cellistin, die mit unbedecktem Kopf herumlief und ihren Mantel über der Schulter trug. Im fluoreszierenden Licht der Peitschenlampen am Straßenrand sah sie gespenstisch aus, ihr blaues Samtkleid plötzlich trauerschwarz. Ich hörte sie drei Worte sagen: «Lahm? Oder zahm?» Ihr volles rotes Haar leuchtete violett, ihre großen blauen Augen wirkten unecht, nicht-menschlich, ihre Lippen standen auffällig hervor. Sie sprach mit ihrem Tischherrn, blendete vollkommen aus, dass der Rest von uns existierte, der alternde Rest von uns, der lahme oder zahme Rest von uns. Vielleicht weil sie betrunken war und so achtlos gegen sich selbst, fühlte ich mich sehr zu ihr hingezogen, war froh über ihre Anwesenheit.
    «Tut mir leid, dass wir vorhin so vom Thema abgebracht worden sind», sagte J. J. Stein zu mir, als wir aufbrachen. «Kommen Sie uns doch mal besuchen. Schauen Sie einfach vorbei. Dann zeige ich Ihnen das Forum.»
    «Prima. Sehr gern.»
    Ted MacKey, ein hochgewachsener, elegant ergrauender Mann, stand, beide Hände zum Abschied erhoben, in der bernsteinfarbenen Wärme hinter dem Fensterglas. Der erste Eindruck von ihm täuschte ziemlich. Im Verlauf des Winters lud er mich noch zu einer Reihe weiterer, weit weniger förmlicher Treffen bei sich zu Hause ein, und es stellte sich heraus, dass er ein Hipster war, ein begabter Trompeter, der Beziehungen zu allerlei welterfahrenen, wortkargen, sanften Jazz-Musikern vom oberen und unteren Lauf des Mississippi unterhielt, die sein Essen aßen, seinen Schnaps tranken und mit ihm in Trios oder Quartetten improvisierten. Kein bisschen herablassend, muss ich dazusagen, sondern einfach nur geehrt, mit ihm zu spielen, diese Männer, bisweilen auch Frauen, die ihre Seele durch ihre Instrumente sprechen ließen und sich darüber hinaus, wie ich bemerkte, nur durch ein Neigen des Kopfes, ein Schulterzucken oder ein leichtes Senken der Lider mitteilten.
    Genau das war auch Ted MacKeys Stil. Aus dem Zusammenhang gerissen, hatte er professoral gewirkt. Und wie die Leute Ted falsch einordneten, neigten er und unsere Kollegen dazu, mich falsch einzuordnen. Ich war als ein Mann, der unter Schock stand, zu ihnen gekommen, der Politik überdrüssig und damals frisch, im Gegensatz zu kürzlich, verwitwet. In den vier Jahren unserer sehr flüchtigen Bekanntschaft hatte Ted meine anhaltende Lähmung als Distanziertheit, vielleicht als Ironie gedeutet. Ich war hip, ich war beat. Ich hätte jederzeit mit Chet Baker dort sitzen können, wenn ich ein Instrument beherrscht hätte. Was meine Historiker-Kollegen betrifft, so verwechselten sie meine Betäubung mit Furcht. Sie schauten mich an und sahen einen J. Alfred Prufrock – schauten mich an und sahen sich selbst.
    Die Treffen bei Ted waren eine Art Erholung. Nicht nur von den Sitzungen und dem einen oder anderen grauenhaften Dinner mit den Marionetten, zu denen wir Angestellten des Historischen Instituts uns gemacht hatten, sondern auch von der Trostlosigkeit meines vierten Winters dort. Die einen Monat langen Weihnachtsferien waren eine Strafe für das Institut. Ich blieb wie jedes Jahr in der verlassenen College-Stadt, und als der Studienbetrieb wieder losging, schien es, als hätte sich jeder einzelne Kollege über die Ferien irgendein furchtbares Leiden zugelegt. Clara Frenow, die Geschäftsführerin des Fachbereichs, hatte nach einer Krebsdiagnose mit der Chemotherapie begonnen. In derselben Zeit fiel unser einziger farbiger Kollege, der einzige auch mit so etwas wie einer Persönlichkeit, ein beinahe pathologisch hochbegabter Westinder namens Tiberius Soames, der seine großen Einführungsvorlesungen mit so viel Aplomb hielt, dass sich die Zahl der Studenten mit Hauptfach Geschichte seit seiner Ankunft verdoppelt hatte, plötzlich in ein tiefes psychisches Loch und musste mit einer schweren Depression in die Klinik. Zwei Wochen nach der Winterpause war er zurück, geschwächt und verstört gab er eine qualvolle Imitation seiner selbst. Andere litten unter anderen Malaisen: ein Sohn wegen Drogenmissbrauchs verhaftet, ein Sommerhaus samt Famlienerbstücken bis auf die Grundmauern abgebrannt, ein Lehrbuchvertrag wegen einer Schreibblockade aufgelöst und Ehekrach bei einem jungen Paar, das sich eine volle Stelle teilte.
    Ich selbst machte weiter wie seit Jahren. Wo ich
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