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Der Name der Welt

Der Name der Welt

Titel: Der Name der Welt
Autoren: Denis Johnson
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anpreisen durfte, um Dr. J. J.s Erwartung gerecht zu werden, aber zufällig hatte ich da eine Idee, die ich ihm unterbreiten wollte, die Idee zu einem Projekt, das wissenschaftliche Hilfskräfte und mehr als ein Büro erfordern würde, ein möglicherweise fächerübergreifendes Vorhaben, bei dem ein Sammelband mit Beiträgen zum Thema herausspringen mochte, und diese Vision legte ich ihm dar, während er begeistert dazwischenfragte und die Cellistin neben ihm sich einen reizenden Schwips antrank. Mittendrin ließ ich ganz spontan einfließen, dass Dr. J. J. ja das Vorwort zu diesem Sammelband schreiben und das zum Anlass nehmen könnte, sich über sein Forum zu verbreiten. Die Cellistin, eine von Teds fortgeschrittenen Studentinnen, bekundete so etwas wie ironisches Interesse an meinem Plan, stellte ebenfalls Fragen, und ziemlich bald begann sie die Zwischenfragen des Doktors ihrerseits zu unterbrechen, indem sie hauptsächlich, ja beinahe ausschließlich «Ach – wirklich?» sagte. Ein auffallender Rotschopf in einem blauen Samtkleid, so saß sie am Kopfende des Tisches: Mitten beim Essen war sie auf Izaak Andropovs frei gebliebenen Ehrenplatz umgezogen. Ihre elfenbeinfarbenen Wangen und elfenbeinfarbenen Schultern überzogen sich mit Röte, und ihre Stimme bekam ein klangvolles, gefährliches Timbre. Ich weiß nicht genau, warum es so vergnüglich ist, bei einer derart steifen kleinen Veranstaltung einem talentierten jungen Menschen dabei zuzusehen, wie er sich ein bisschen zum Narren macht. Doch als sie die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr auf unsere Tischecke zu lenken begann, dass man sich an sie erinnern würde, ahnte ich, dass mein eigenes Geschwafel darüber in Vergessenheit geraten könnte, und es tat mir nicht besonders leid darum.
    Nach dem Dessert führte Ted drei oder vier von uns auf einen Austritt über dem Haus. Aus dem zweiten Stock schraubte sich eine Wendeltreppe zu einer Kanzel auf dem Dach empor, einer seltsamen Konstruktion, die einem verglasten Vogelkäfig ähnlich sah, knapp drei Meter im Durchmesser und unbeleuchtet, sodass unsere kleine Schar unversehens in der Nacht stand und im Himmel. Es hatte aufgeklart, der Schnee war vom Glas geweht, und nun waren Sterne und vom Mond beschienene, dekorative Wolken am schwarzen Firmament. «Früher war das mal so eine Art Witwensteige», erklärte Ted, «aber wie ihr seht, ist es in – na, ich weiß, ehrlich gesagt, auch nicht, in was es eigentlich umgebaut worden ist. Ich führe Gäste nur deshalb hier herauf, weil ich rauskriegen will, ob es irgendeinem erkennbaren Zweck dient.» Den Zweck erkannte keiner von uns. Schließlich wurde ich mit dieser Frage und einer Frau namens Heidi Franklin, einer Kunsthistorikerin, dort oben allein gelassen. Einer freundlichen, aber unbeholfenen Frau, steif und der Verzweiflung nah – einer unscheinbaren Frau, was ich wohl sagen darf, weil ich selbst unscheinbar bin, dazu älter als sie, also war ich schon vor ihr unscheinbar. Ich bin puttenhaft, babygesichtig und über fünfzig, obwohl ich für Jahre jünger gehalten werde, mit lustigen blauen Augen, und eben deshalb unscheinbar. In der funkelnden Dunkelheit sprachen wir sehr leise, wahrscheinlich über die Sterne. Vielleicht hätte Heidi noch Lust auf einen Schlummertrunk in der Stadt gehabt, vielleicht auch ich. Dass keiner von uns sozusagen den Finger auf die Waagschale legte und sie in diese Richtung neigte, lag an der Ahnung, die uns vermutlich beide, mich aber ganz gewiss beschlich, dass wir mit Absicht dort oben zurückgelassen worden waren. Wenn ich sie gefragt hätte, hätte ich womöglich erfahren, dass sie allein lebte, so wie ich, oder noch schlimmer, dass sie sich kürzlich hatte scheiden lassen, so wie ich kürzlich Witwer geworden war.
    Wenn ich kürzlich sage, meine ich das nicht so, als hätte ich mir kürzlich ein Auto gekauft oder wäre kürzlich im Kino gewesen. Ich spreche davon, wie ich von einem kürzlich eingetretenen Klimawechsel oder von einem kürzlich ausgebrochenen Krieg sprechen würde, von einem kürzlich – das ist hinreichend klar, denke ich. Es war beinahe vier Jahre her, lange genug, um mich wieder verfügbar zu machen. Jedenfalls schienen andere das zu glauben, und ich hätte es nicht bestritten.
    Als irgendwie feststand, dass der Abend gelaufen war, brachen alle Gäste zusammen auf, und diejenigen, die fuhren, ließen ihren Wagen an und saßen darin mit offener Tür, während alle sich noch einmal voneinander verabschiedeten.
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