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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Mutter… Agha Djan und Chanum Djan haben uns nicht so erzogen. Dieses Verhalten schickt sich nicht für dich. Du bist rechthaberisch geworden. Du suchst nach Ausflüchten, um deine eigene Schuld anderen anzuhängen. Du versuchst, harmlose Menschen zu quälen. Beneidest du sogar die arme Nimtadj, der dein Anblick, der Anblick deines Gesichts und deiner Haare sicher eine ständige Qual bedeutet? Dieses Unglück hast du dir selbst zuzuschreiben. Du mußt es auf dich nehmen. Das hast du dir selbst eingebrockt.«
    Sie hatte recht. Sie sagte genau das, was ich mir zuvor hundert Mal selbst gesagt hatte. Klagend fragte ich, »Was soll ich tun, Nozhat? Sag mir, was soll ich tun?«
    »Mach eine Reise. Verlaß Teheran für ein, zwei Monate. Entferne dich von deinem Zuhause. Fahr nach Mashhad. Geh und bitte Imam Reza (Friede sei mit ihm) um Hilfe. Vielleicht erhört er dich. Geh und ruh dich etwas aus. Damit du Mansur wieder besser zu schätzen weißt und er dich.«
    Ich lächelte bitter, »Ich glaube nicht, daß es für ihn eine Rolle spielt, ob ich da bin oder nicht.«
    Nozhat warf mir einen bösen Blick zu.
    Mansur fragte entgeistert, »Zwei Monate?…«
    »Ja, Mansur. Ich muß gehen. Ich muß endlich wieder zur Ruhe kommen.«
    Er sah mich mit einem liebevollen Lächeln an, »Du? Du willst zur Ruhe kommen? Das kann ich nicht glauben. Ich kenne keinen feurigeren Menschen als dich. Du kennst keine Ruhe.« Er lachte und fuhr fort, »Und genau das Feuer ist es, was mich verzehrt.«
    Ich machte mich mit meiner lieben Amme auf den Weg. Sie war die einzige, die meine Qualen verstand und sie teilte. Sie war die einzige, die meinen Sohn gesehen hatte. Wir quartierten uns im Haus eines entfernten Verwandten meiner Mutter ein. Meine tägliche Beschäftigung bestand darin, zum Haram zu gehen. Stundenlang saß ich dort und starrte auf den Schrein. Als sei zwischen ihm und mir eine innige Verbindung entstanden. Als würde ich mit meinen Blikken alle Schmerzen aus meinem Inneren ausschütten und Ruhe finden. Im ersten Monat flehte ich Gott und Imam Reza Tag und Nacht um Heilung an.
    »Nur einen Sohn, nur einen.«
    Die tägliche Wiederholung einer Bitte. Als würde ich eine Beschwörungsformel unablässig herunterbeten. Jeden Morgen sagte ich, »Liebe Amme, gestern nacht habe ich von einer Taube geträumt.«
    »Das bedeutet etwas Gutes, mein Kind. Du wirst ein Kind bekommen.«
    »Liebe Amme, ich habe von einem großen Becken mit klarem Wasser geträumt.«
    »Inshallah eine gute Nachricht. Du wirst geheilt werden, mein Kind. Wasser bedeutet Licht.«
    »Liebe Amme, ich habe von einem Herrn im Strahlenkranz geträumt. Er hat mir einen Spiegel geschenkt.«
    »Bah, bah, Imam Reza hat dich geheilt.«
    Dann öffnete mein Blick sich nach und nach für die Realitäten. Ich akzeptierte die Wahrheit, zögernd und widerstrebend. Als hätte mich jemand mit seinen weisen Ratschlägen getröstet. Als hätte mich jemand beschwichtigt und besänftigt. Ich fürchtete, dieser Friede würde nur vorübergehend sein. Ich fürchtete, dieses Wasser, das mir über die Feuersbrunst im Inneren geschüttet worden war, könnte sich mit der Rückkehr nach Teheran und zunehmender Entfernung von Imam Reza plötzlich in Nichts auflösen. Daß meine innere Flamme wieder auflodern, mich verzehren und mein Leben in Asche verwandeln würde. Ich traute mir nicht. Ich fürchtete mich vor meinen heftigen Gefühlen. Im zweiten Monat flehte ich Tag und Nacht, »O Imam Reza, besänftige mein Herz. Wenigstens das muß doch möglich sein! Das kann doch nicht so schwierig sein! Gib, daß mein feuriges Herz sich abkühlt. Laß mich durch den Tod erkalten oder lösch mein inneres Feuer.«
    Ich weinte und bettelte nicht mehr. Ich war zu einer mystischen Ergebenheit gelangt. Ich hatte meine hoffnungslose Lage demütig akzeptiert und sehnte mich bei der Rückkehr nach Mansurs Umarmung.
    Ich traf in Teheran ein und fuhr nach Shemiran. Alle kamen zu meiner Begrüßung. Die Kinder, die fröhlich und aufgeregt auf ein Mitbringsel warteten. Nahid, die von Tag zu Tag hübscher wurde, und Nimtadj, die beschämt lachte und sagte, ich hätte ihnen sehr gefehlt. Mansur war nicht zu Hause. Er traf ein, als wir uns alle in Nimtadjs Gebäude zum Abendessen um den Tisch versammelt hatten. Er war wie gewohnt kühl und ernst. Offenbar hatte er vergessen, daß ich auf Reisen gewesen war. Erst begrüßte er Nimtadj und beantwortete den Gruß der Kinder, dann wandte er sich an mich, die ernst und besonnen
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