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Gran Reserva

Gran Reserva

Titel: Gran Reserva
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Prolog
    Der Spiegel war vollends beschlagen. Max wollte ihn mit dem Handtuch frei wischen, beschloss dann stattdessen, mit dem Finger einen Stier hineinzuzeichnen. Wie sie als Werbetafeln für einen Brandy hundertfach in Spanien standen.
    Das Ergebnis seiner spontanen Kunstaktion hätte allerdings auch ein dickes Pferd sein können. Aber Max war zufrieden.
    Er besah sich durch den Bauch des Stieres seine Bartstoppeln und entschied, sie stehen und wachsen zu lassen. Für immer. Oder wenigstens bis er über seinen Bart stolperte. Er war es leid, sich jeden Morgen zu rasieren, und es war ihm verdammt egal, ob irgendeiner das hip fand oder nicht. Scheiß drauf, dachte Max, ich mach das jetzt einfach. Auch wenn er dadurch etwas weniger wie Filmschönling Matthias Schweighöfer aussah. Das würde diesen vermutlich freuen…
    Das Handtuch um die Hüfte, trat er ins Wohnzimmer seines Apartments im Kranhaus Nord, dem neuesten architektonischen Aushängeschild Kölns im Rheinauhafen. Nachts sah es aus wie eine beleuchtete Nähmaschine und tagsüber wie eine unbeleuchtete.
    So etwas hatte es in Köln vorher nicht gegeben. Und in einer Stadt, in der Archive einstürzten, Kirchen sich schief stellten und der Bau neuer U-Bahn-Linien länger als der des Doms dauerte, stellte das durchaus einen Anlass für Lokalstolz dar. Die Wohnungen waren sündhaft teuer, und zu Maxʼ Nachbarn zählten Fußballprofis, Fernsehschauspieler und Vorstandsvorsitzende.
    Man grüßte sich höflich mit einem kurzen, aber bestimmten Kopfnicken.
    Das müde Licht der Morgensonne drang durch die breite Fensterfront und tauchte alles in ein träges Ockergelb. Auf dem zwei Meter breiten Bett, das er gegenüber seinen Freunden gerne als Spielwiese bezeichnete, lagen Berge von Klamotten. Unmengen. Für alle Wetterlagen, für alle Anlässe. Selbst wenn die Welt unterginge, wäre er passend gekleidet.
    Zu verdanken hatte er das seiner Mutter, die ihm das Einkalkulieren aller nur denkbaren Wetterphänomene stets eingetrichtert hatte. Seine Mutter, die nichts dem Zufall überließ, die vor jeder Reise, und war es nur ein verlängertes Wochenende im Schwarzwald, sicherheitshalber einen Abschiedsbrief verfasste und auf der Dielen-Kommode deponierte – man wusste schließlich nie, wo der Tod einen überraschte. Max setzte sich auf die Bettkante und fuhr mit der Hand über den Stoff seiner Kleidung, deren Exklusivität man in den Fingerspitzen spüren konnte. Nur das Beste, nur das Neueste. Die Designer liebten es, wenn der Modefotograf ihre Kleidung trug. Das schmeichelte ihrem Ego, und je mehr diesem geschmeichelt wurde, desto mehr Honorar konnte Max für das nächste Fotoshooting verlangen.
    Er liebte die eng geschnittenen Maßanzüge von Hedi Slimane. Nur um in sie hineinzupassen, hatte Karl Lagerfeld Unmengen an Kilos verloren. Max hatte zum Glück von Natur aus die entsprechende Figur. Er hatte auch das Gesicht dafür, in den Anfangstagen seiner Fotografenkarriere hatte er selbst gemodelt. Doch sobald er als Fotograf genug verdiente, hatte er damit aufgehört. Es war ihm unangenehm, im Rampenlicht zu stehen. Er wollte lieber selbst betrachten als betrachtet zu werden.
    Drei luxuriöse Koffer lagen bereits aufgeklappt neben dem Bett, doch Max ging zum Schrank und holte aus der hintersten Ecke seinen alten Seesack aus Jugendtagen hervor, knüllte ein paar widerstandsfähige Kleidungsstücke hinein und schnürte ihn zu.
    Leichtes Gepäck. Keinen Ballast mehr. Ein Neuanfang.
    Alles, was auf dem Bett lag, war der alte Max, der gegen die Wand gelaufen war, immer wieder, bis der Kopf zu bluten begann. Doch erst, als ihm das Rot in die Augen lief, hatte er damit aufgehört.
    Es war Zeit, in eine andere Richtung zu gehen. Eine ohne Wände.
    Auf der Anrichte neben den Whiskys stand ein Foto von Esther. Er legte es mit dem Gesicht nach unten auf das Kirschholz, warf sich seinen Seesack über die Schulter und warf die Wohnungstür hinter sich zu.
    Der Kölner Dom schien sich neben dem flachen Gebäude das Hauptbahnhofs bis ins himmlische Jerusalem zu erheben. Seine dunklen Türme waren gleichermaßen mächtig wie filigran, ein Bau, der Gottes andersweltliche Pracht wie ein Stein gewordenes Gebet verdeutlichte. Max liebte den Dom, an dem, seit er denken konnte, gearbeitet wurde. Für alle Ewigkeiten würde er ausgebessert werden müssen. Die Kölner glaubten ohnehin, dass an dem Tag, an dem der Dom tatsächlich fertig gestellt und nichts mehr auszubessern wäre, die
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