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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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erkannte, die Stimme von März. Als wäre sie nie weg gewesen. Er sprach über mein Bett hinweg und in mein Bett hinein. Er sagte: Heijeijei. Dann saß er wieder, stundenlang. Er saß, wenn ich einschlief. Und er saß, wenn ich aufwachte. Ich fragte ihn nach dem Wahlkampf. Und für einen Moment drückte er meine Hand. Der Wahlkampf. Ich solle mir darüber keine Gedanken machen.
    Er zeigte auf Blumensträuße. Sie standen auf dem Nachttisch und auf anderen Tischen. Später sagte er: Es seien siebenundzwanzig Blumensträuße. Und es kamen immer weitere Sträuße hinzu. Er zählte sie regelmäßig. Bald waren es über dreißig Sträuße. Blumensträuße über Blumensträuße. Dazu Genesungspostkarten und Genesungsbriefe. Manchen Brief las er mir vor. Was ich dazu sagen würde? Zu diesem oder jenem Brief, den er mir vorlas. Ob ich mich freuen würde? Sogar meine Frau hatte mir geschrieben. Er legte ihren Brief auf mein Kopfkissen …
    Er war nicht verärgert. Er machte keine Vorwürfe. Er atmete tief. Er betupfte seine Stirn. Manchmal schien es, als wäre März es gewesen, der einen Unfall gehabt hatte. Und er wäre es nun, der jeden Tag wieder zu Kräften kommt. Es geht ihm langsam besser. Er ist fast schon wieder der Alte, hätte ich gerne zu Hannah gesagt. März zählte Blumen. Und Postkarten, die er auf mein Kissen legte. Einmal sagte er versehentlich Postkissen statt Kopfkissen. Ob er mein Postkissen lüften solle. Dann ging er wieder ans Telefon, in das er nun immer öfter sprach. Er sagte: Es sei alles nicht so schlimm, wie man zunächst befürchtet habe. Er meinte mich und meine Verletzungen. Keine Kopfverletzungen. Er sagte das beschwörend. Als säßen im Zimmer noch Menschen, die das bezweifeln könnten. Keine Kopfverletzungen! Stattdessen nur einige wenige allgemeine Verletzungen. Ich sei im hiesigen Kantonshospital in besten Händen. Ich würde täglich Fortschritte machen. Man könne sogar bald daran denken, mich nach Deutschland zu verlegen. Von hier in Chur nach Heiligenberg. Falls ich das wünschte.
    Welch unglaubliches Glück ich gehabt hätte, sagte März. Er nannte immer weitere Belege und Zahlen. Zum Beispiel Meterzahlen. Meter, die ich geflogen war. In die Tiefe und in die Weite. Meter für Meter, die man mich auf einer Trage hochgetragen hatte. Meter und Minuten, die man mich geflogen hatte. Meter an Blumen und Briefen. Sowie Prozentzahlen, die ich nun wieder hörte. Prozentzahlen an Betroffenheit und an Mitgefühl. Ein Jetzt-erst-recht-Gefühl. Sehr gute Umfrageergebnisse, ja selbst hier in der Schweiz. Sogar hier könnte ich nun Wahlen gewinnen, so März, der in immer schnelleren Sätzen sprach. In Deutschland sei die Zustimmung gewaltig. Die Antworten auf die Sonntagsfrage – nur noch wohlwollende, sich geradezu überschlagende Antworten.
    Dass der Wahltermin in drei Wochen sei, so März. Dass man nun keine Fehler mehr machen dürfe. Dass es die neuesten Zahlen zu bewahren gelte. Dass ich keine öffentlichen Wahlkampfauftritte mehr machen müsse. Dass das nicht nötig sei. Vielleicht nicht einmal geboten. Dass ich erst einmal wieder gesund werden solle. Nur das sei wichtig. Dass ich sechs Wochen nach der Wahl meine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen würde. Sobald der Landtag sich neu konstituiert habe. Und ich von den Abgeordneten wieder zum Ministerpräsidenten gewählt worden sei. Woran es keine Zweifel gebe …
    Ich wollte Hannah sehen.
    Dass ich dann meine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen und wieder Politik machen würde, so März am Telefon, so März im Fernsehen, so März zu mir, so März zu den Ärzten …
    Ich fragte nach Hannah, und er sagte, Hannah sei tot, und das sei schrecklich. Und er ließ mich allein. Und er kam wieder und fragte: Ob er einen Arzt rufen solle. Oder er irgendetwas für mich tun könne.
    Ich schaute Fernsehen, und ich sah die Straße, auf der Hannah und ich gefahren waren, und ich sah die Kurve, um die wir nicht herumgefahren waren, und ich sah den Abhang, in den wir geradewegs hineingefahren waren … Und ich sah unsere Fahrräder, die verstreut auf einem letzten Stück Wiese lagen – kurz vor einem Abgrund. Erst entdeckte ich mein Rad, dann Hannahs Rad. Ich sah, wie ein Feuerwehrmann Hannahs Rad behutsam nach oben trug. Meter für Meter. Und ich dankte diesem Mann dafür, wie behutsam er dieses Fahrrad berührte und trug.
    Und ich dachte daran, wie Hannah selbst manchmal ihr Fahrrad berührte und trug. Und wie sie auch mein Fahrrad in manchen Momenten berührte
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