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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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Buchstaben und Größen. Hannah wollte davon nichts hören. Sie wollte lieber schwimmen. Oder in einer Wiese liegen. Ich sagte ihr: Vielleicht sei ich längst tot. Zumindest nach Meinung der Presse. Oder wieder im Krankenhaus. Oder entführt worden. Oder was sonst noch alles in den Zeitungen über mich stehen könnte. Dass wir das vielleicht wissen sollten. Um darauf vorbereitet zu sein. Vielleicht, sagte Hannah, und streichelte ihr Bein, so als wäre ihr Bein gar nicht ihr Bein, sondern mein Bein. Wer weiß.
    Zeitungsschlagzeilen und Radionachrichten bilden die Wände der Höhle, in der wir liegen – sagte sie. Das sei die Zeile eines Gedichts. Nur dass wir in keiner Höhle lagen, sondern immer weiterfuhren. Und wir sahen auf der oberen Hälfte einer Zeitung den Satz: Urspring doch nicht … Mehr war von der Schlagzeile nicht zu sehen. Wir fuhren bereits um die nächste Ecke. Urspring doch nicht … irgendetwas: krank, tot, verrückt, entführt, am Leben. Wir erlebten das alles beiläufig: die Zeitungskioske, unsere Launen, unsere Badestopps … Beiläufig überquerten wir den Rhein. Beiläufig sagte Hannah, wir seien jetzt in der Schweiz. Beiläufig schlug sie vor, nicht mehr geradeaus weiterzufahren, sondern nach links zu biegen. Links bedeutete Sargans, Chur, den Rhein hinauf, immer weiter in die Schweiz hinein. Was sie dort wolle? fragte ich sie. Sie wollte nichts Bestimmtes. Sie wollte einfach nur weiterfahren. Links und rechts sah man die ersten Berge. Sie wurden immer höher, massiver und schroffer. Ich sagte das Hannah auch, und sie antwortete: Das werde sich wieder geben.
    Ob man März einfach anrufen sollte, sagte ich: Einfach anrufen, um ihm zu sagen, dass wir wohlauf sind. Nur das. Und sie antwortete: Ja, das sollten wir.
    Abends im Hotel sagte sie: Es gebe keine Pflicht, die Zeitung zu lesen oder den Fernseher einzuschalten. Warum ich immerzu auf den Fernseher schielen würde. Man könne durchaus auch ohne Abendnachrichten einschlafen.
    Auf der Rückseite einer Müslipackung hatte sie eine Landkarte entdeckt, eine Grobkarte der gesamten Schweiz, die sie ausgeschnitten hatte und mit sich trug. Sie stellte – mit dieser Karte auf ihrem Schoß – Überlegungen an, wohin wir fahren könnten. Ins Tessin? Oder nach Italien? Wie wir auch fahren würden, der Weg führte über furchterregende Passstraßen. Bereits jetzt waren wir von Bergen umzingelt. Hannah konnte das nicht leugnen. Also bogen wir nach links. Weil die Berge dort niedriger wirkten. Und weil der Radweg nahezu flach war. Jedenfalls fürs Erste.
    Irgendwann sagte Hannah: Sie würde gerne ins Engadin fahren. Wo immer das Engadin auch liegen mochte. Sie schien es zu wissen. Wenigstens in groben Zügen. Weil sie als Kind schon einmal dort gewesen war. Zusammen mit ihren Eltern. Dass es dort schön sei. Dass sie dort Freunde habe. Dass sie dort hinwolle.
    Sie berechnete all das auf ihrer notdürftigen Karte. Wie wir fahren müssten, um ins Engadin zu kommen, über zwei Pässe hinüber, den Wolfgangpass und den Flüelapass. Sie maß die Entfernung mit ihrem Daumen. Wolfgangpass, das klang harmlos, wie ein gutmütiges Wesen, ein Freund namens Wolfgang. Und sie sagte, dass wir ohnehin nur noch über Berge und Pässe weiterkommen würden. Dass das unvermeidlich sei. Wohin wir auch fahren würden. Dass der Wolfgangpass harmlos sei. Dass er im Vergleich zu den anderen Pässen fast einladend wirke.
    Also fuhren wir, ihrer Karte folgend, auf einer immer steiler werdenden Straße Richtung Klosters hinauf. Dass das bald besser werde, sagte sie. Doch es wurde immer schlimmer. Irgendwann schoben wir unsere Räder – über Geröllhalden hinweg. Bald war es mehr ein Heben und Ziehen als nur ein Schieben. Ob das der Radweg sei? fragte ich. Sie wusste es nicht und schaute auf ihre Karte. Wir zogen die Räder über Felsen hinweg. Sie erzählte mir: Wie tiefblau der Himmel im Engadin sei. Ein Blau, wie man es nirgendwo sonst sehen könne. Im Vergleich zu diesem Himmel sei jeder andere Himmel ein Nichts. Milchiges Gewäsch.
    Wir hatten nicht einmal den Anfangspunkt des Wolfgangpasses erreicht – und schoben bereits. Wir schoben schon seit vielen Kilometern. Doch sie zeigte nach oben. Hoch oben sahen wir eine Brücke. Und die Umrisse einer Straße. Bald seien wir oben – auf einer richtigen Straße. Wir sahen auch Häuser und einen Kirchturm. Siehst du, sagte sie. Was immer dieser Kirchturm auch bedeuten mochte.
    Er bedeutete ein paar Meter Höhe. Und ein erstes
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