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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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einfielen? Und ich sagte Mondtag. Das war ein Tag, der mir einfiel. Und sie sagte: Ja, fast richtig, Montag, ohne Mond, und sie nannte weitere Tage, Dienstag, Mittwoch, und ich nannte ihr die restlichen Tage, Donnerstag und Freitag und Samstag, und sie war glücklich.
    Sieben Tage, vier Jahreszeiten, zehn Finger, zwölf Monate, neunundzwanzig Buchstaben und zahlreiche andere Zahlen, die ich kannte. Zum Beispiel mein Geburtsdatum. Oder die Geheimnummern meiner Scheckkarten. Oder einige Telefonnummern. Die Ärztin fragte nach diesen Nummern, und ich nannte ihr die Nummern in rasender Geschwindigkeit, und das überraschte sie.
    Sie blieb bei mir und sprach von Lücken.
    Lücken?
    Jawohl, Lücken.
    Welche Lücken?
    Sie meinte Lücken in meinem Kopf. Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken und andere Lücken … Sie setzte sich auf einen Stuhl und fand immer weitere Lücken. Ich fragte sie, was das sei, eine Lücke? Sie antwortete: Eine Lücke sei etwas, das nicht mehr ist, wo vorher etwas war. Vielleicht ist bei einer Lücke aber auch etwas nicht da, wo vorher auch nichts da war. Wie will man das wissen? Sie sagte nichts.
    Ich sollte ihr nachsprechen. Oder mit ihr sprechen. Oder angefangene Wörter weitersprechen. Die Unterschiede zwischen einzelnen Buchstaben mit meiner Zunge spüren, zum Beispiel den Unterschied zwischen den Buchstaben D und T. T nicht wie D sprechen, D nicht wie T sprechen. Nicht Tuten, sondern Duden. Nicht Busen, sondern Blusen. Sie trug weiße Blusen. Wunderschöne Blusen.
    Herr März kam. So nannte er sich: März. Julius März. März wie Januar, Februar, März. Er kannte mich. Er kannte mich mit einer Vehemenz, die mich beeindruckte. Er fragte gar nicht: Ob auch ich ihn kenne? Es gab für ihn keinen Zweifel, dass ich ihn kenne. Schon seit Jahren. So sah er jedenfalls aus. Als würde oder müsse man ihn schon lange kennen. Er sprach lautstark. In mein Bett hinein. Und über mein Bett hinweg: Was ich für Sachen machen würde? Heijeijei. Was mit meinem Gesicht sei? Heijeijei. Ich hörte von einer Lähmung. Einer Lähmung meiner rechten Gesichtshälfte. So erklärte ihm das die Ärztin. Das rechte Auge schließe nicht ganz. Dafür reagierten die Pupillen. Bei einer immer noch starren Mimik. Und mein Mund sei noch ein wenig schief. Doch das werde wieder. Hörte ich sie sagen. Und März antwortete: Hoffentlich. Er verabschiedete sich. Drückte meine Hand. Mit beiden Händen drückte er meine Hand. Und er sagte: Du. Nicht Sie, sondern Du. Dann ging er.
    Kein Radio, kein Fernsehapparat. Dass das nicht gut sei, sagte die Ärztin, ein Radio, ein Fernseher an meinem Bett. Jedenfalls nicht jetzt. Dass mich das aufregen und erschrecken könnte. Dafür Blumen, in allen Farben und Variationen. Verbunden mit Grüßen und den besten Wünschen von zahllosen Menschen.
    Sie, die Ärztin, reichte mir ein Notizheft, in das ich schreiben sollte. Zum Beispiel meinen Namen, Claus Urspring. Ich konnte den Namen auf Anhieb schreiben. Obgleich der Name seltsam klang. Wie aus einem Traum. Claus Urspring. Und ich konnte den Namen auch lesen. Doktor Claus Urspring. Was die Ärztin erfreute. Sie freute sich auch über meine Schrift. Sie sagte, das sei eine sehr flüssige und schöne Schrift. Ich fragte sie nach ihrem Namen, und sie antwortete: Doktor Wolkenbauer. Und ich schrieb den Namen ins Notizheft.
    Alles, was mir einfiel, sollte ich aufschreiben. Was ich wusste und was ich nicht wusste. Was ich wissen wollte oder auch nicht wissen wollte. Was ich verstand oder nicht verstand. All das sollte ich aufschreiben. Selbst über den Schnee sollte ich schreiben. Ich wünsche mir einige Zeilen von Ihnen über den Schnee, sagte sie. Schreiben Sie Erinnerungen, Szenen, Bilder, Überlegungen zum Schnee.
    Schnee?
    Jawohl, Schnee.
    Oft verstand ich sie nicht. Sie sagte dann: Falls ich etwas nicht verstehen würde, dann sei das nicht schlimm. Ich solle dann einfach einen Strich in mein Heft machen. Auf die rechte Seite. In eine Spalte mit der Überschrift: Verstehe ich nicht . Und so machte ich Strich auf Strich. Verstehe ich nicht . Zum Beispiel als sie über das Wort Doktor in meinem Namen sprach. Doktor Urspring. Dass das kein Vorname sei, Doktor, sondern ein Titel, eine Anrede, ein Rang. Das sei ein Doktor. Sie sei Doktor und ich sei Doktor, aber die Pflegerin, sie sei kein Doktor – was ich nicht verstand. Warum sollte sie kein Doktor sein? Warum nicht?
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