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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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Wege leiten könne?
    Frau Wolkenbauer: Aus logopädischer Sicht sei es nicht ratsam, an meiner Aussprache herumzudoktern, eine halbwegs funktionierende, annäherungsweise hochdeutsche Aussprache ins Schwäbische zu wenden. Für sie war das ein phonetischer Wahnwitz.
    Und auch Hannah, sie blieb dabei: Mein Deutsch klinge jetzt viel schöner als früher. Früher sei mein Sprechen – sie sprach nun ganz offen – ein Unding gewesen. Ein hölzernes Stakkato. Ein ständiger Fehlklang und Fehltakt. So als wären die Sätze vor sich selbst davongelaufen. Jeder Satz eine Flucht. Oder ein gehetztes Stolpern. Ein rastloses Zuendebringen; in sich überschlagender Unbeholfenheit. So habe das geklungen. Verwaschen, verkrampft und gepresst. Rechthaberisch und kleinlich. Auf jeder Kleinigkeit insistierend. Ein Sprechen, das von Satz zu Satz hastete, ganze Sätze verschluckend, vor lauter rechthaberischer Eile und gehetzter Rechthaberei. So habe das geklungen.
    März winkte mit unwirschen Bewegungen ab, doch Hannah blieb dabei. Abgehackt, abgehetzt und überstürzt. Nahezu roboterhaft. Wie ein aufgezogener Blechsoldat. Eine blecherne Apparatur. Für norddeutsche Ohren ein Grauen. Die Bestätigung schlimmster Vorahnungen und Vorurteile. Von wegen Wiesen und Weinberge. Eher wie ein geduckter Mann, der zu einer Straßenbahn hetzt. So habe das geklungen. Sowohl mein Deutsch, und viel schlimmer noch mein Englisch. Als renne hier jemand um sein Leben. In einer furchtbaren Fremde. Ohne Rücksicht auf Worte, die keine Worte mehr seien, sondern nur noch Laute, davonrennende Laute. Als würde ich von keinem Wort der Welt geliebt. So habe das geklungen.
    März sagte, dass er mit dem Kabinett und dem Wahlkampfteam über die Frage des Dialekts noch sprechen werde, dass ich meine Rundfunkansprache wenigstens mit den Worten Grüß Gott und Ade umrahmen solle. Um die Bevölkerung nicht allzu sehr zu beunruhigen.
    Frau Wolkenbauer sagte: Meine Aussprache, sie sei gut. Sie sei deutlich und artikuliert. Sie sei weniger zu beanstanden als meine frühere Aussprache. Oder als der Zustand meiner Hüfte. Und sie ließ einen Rollstuhl kommen, um mich zu weiteren Untersuchungen zu fahren. MRT – Hüfte, rechts. So stand es auf einem Zettel, der an meinem Rollstuhl hing. Als ich wieder zurückgeschoben wurde, saß März an meinem Bett und fragte: Wie es war? Ob bereits erste Ergebnisse vorlägen? Und Frau Wolkenbauer sagte: Dass das noch dauere. Und sie bat März nach draußen. Da ich nach der Untersuchung Ruhe brauchte. Und März stand auf und grüßte von Hannah. Sie habe mir ihr Aufzeichnungsgerät hinterlassen. Es liege dort drüben auf dem Nachttisch. Die Ansprache. Vielleicht könnte ich schon heute damit anfangen, einige erste Sätze zu sprechen, so März. Was immer mir auf dem Herzen liege: Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger. Grüß Gott. Und Ade. Mehr fiel mir nicht ein.
    Frau Wolkenbauer nahm mir das Aufnahmegerät aus der Hand. Sie sagte: Ich solle die Ansprache wenigstens für einige Stunden ruhen lassen. Ich möge mich ausruhen und die Augen schließen und mich erinnern.
    Erinnern?
    Ja, erinnern.
    Woran erinnern?
    Zum Beispiel an meine Kindheit. An meine Eltern oder an meine Geschwister. Daran sollte ich mich erinnern.
    Ich erinnerte mich an meine Cousine.
    Ihre Cousine?
    Ja, meine Cousine.
    Und Frau Wolkenbauer fragte, ob ich ihr gerne ein wenig von meiner Cousine erzählen würde. Und ich erzählte ihr, dass meine Cousine und ich gleich alt gewesen waren, dass sie einmal als zwölfjähriges Mädchen für längere Zeit zu uns nach Hause gekommen war. Ihre Eltern waren nach Amerika gereist und konnten sie nicht mitnehmen. Eines Tages wurde sie zu uns gebracht, und ihre Eltern reisten weiter – und sie hüpfte in ihrem Nachthemd durch die Zimmer, bis sie allmählich verstummte, in eine Ecke kroch und langsam das Fehlen ihrer Eltern bemerkte. Sie weinte und sie hustete. Später bekam sie Fieber. Wir trugen sie ins Bett und wickelten ihre Waden. Der Arzt, den wir riefen, er war besorgt wegen ihres hohen Fiebers. Ich blieb an ihrem Bett, was dem Arzt missfiel – aber mir gefiel es …
    Ich erinnerte mich, wie sie, meine Cousine, vor mir lag, fast ohne Bettdecke. Ich erinnerte mich an ihre Waden, die ich wickelte und dabei streichelte. Ich erinnerte mich an ihre unruhigen Beine und an ihr Nachthemd, das sich immer mehr nach oben rollte. Ich erinnerte mich an Bruchteile von Sekunden: an allererste Anzeichen fraulicher Formen, die ich für
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