Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
Vom Netzwerk:
antwortete: Vielleicht ja doch. Aber Hannah sagte: Mit Sicherheit nicht. Und Hannah probierte eine erste Jahreszahl, ohne Erfolg, und wir gingen, damit die Karte nicht einbehalten werden konnte, zu einem anderen Geldautomaten in einem anderen Dorf und probierten dort eine weitere Jahreszahl, aus meinem Leben, dann aus ihrem Leben – und wir wurden dabei immer öfter von Menschen misstrauisch beäugt. Und Hannah fragte eine Dame, die zu uns rüberschaute: Ob sie ein Problem habe? Ob sie vielleicht eine geeignete Nummer wisse? Oder uns eine Nummer vorschlagen könnte. Oder wir unsere Nummern oder Scheckkarten einfach tauschen könnten … Bis unsere Karte irgendwann einbehalten wurde – vor lauter falschen Zahlen und Nummern und feindseligen Blicken. Und Hannah meinte: Warum nimmst du nicht einfach deinen Helm ab und sagst, wer du bist.
    Dass man mir womöglich gar nicht glauben würde, sagte ich ihr, wenn ich meinen Helm abnehmen und sagen würde, wer ich sei. Dass kein Mensch das glauben würde. Gerade dann, wenn ich mich in aller Offenheit irgendwo hinstellen und behaupten würde, dass ich Claus Urspring sei. Dass man sogleich abwinken und weitergehen würde. Ich stellte mich neben ein Wahlplakat und rief: Ich bin Claus Urspring. Niemand hörte das. Niemanden interessierte das: Dass ich das war, der auf dem Plakat uns anschaute, der uns auf diesem Plakat anlächelte. Mit Zähnen, die ich gar nicht hatte.
    Und ich zeigte ihr (als letzte Hoffnung) eine weitere Scheckkarte, die ich nachts in meiner Hosentasche gefunden hatte, meine allerletzte Scheckkarte, die ich ihr eigentlich erst später hatte zeigen wollen, wie eine letzte Möglichkeit, doch die ich ihr jetzt schon reichte, um sie aufzurichten. Und ich hatte sogar eine vage Idee einer Nummer, die zu dieser Karte passen könnte, eine Nummer, die ich in der Klinik mehrere Male erinnert und gesagt hatte – und die ich auch in meinem Notizheft vermerkt hatte. Ich sagte Hannah diese Nummer, sie war identisch mit dem Jahr meiner Promotion. Und sie antwortete: Was das miteinander zu tun haben soll, die PIN-Nummer und das Jahr meiner Promotion. Doch wir fuhren zum nächsten Dorf und probierten dort einen weiteren Geldautomaten, der uns tatsächlich Geld geben wollte. Einfach so. Hannah sagte: Er will uns Geld geben. Nachdem sie das Jahr meiner Promotion eingegeben hatte. Plötzlich gab es Geld. Hundert Euro. Und wir versuchten den nächsten Automaten. Zweihundert Euro. Und er gab ohne zu zögern zweihundert Euro. Geld für Promotion. Und wir wiederholten das, den ganzen Vormittag.
    Hannah wollte frühstücken, Hannah wollte sich die Zähne putzen, Hannah wollte duschen, Hannah wollte weiter. Sie war nun ausgelassen. Sie deutete auf Wahlplakate und rief: Das sei ich. Unser Ministerpräsident . Oder: Ein Land wie Urspring . Das sei ich, rief sie zu Passanten. Erst jetzt erlebte ich den Schrecken all dieser Plakate. Und es gab Dörfer, in denen die Plakate kein Ende nahmen. Noch ein Plakat und noch eines. Das Wunder von Bern. Das Tor von Wembley. Und die Rückkehr Ursprings . Wunder und Schicksalsjahre. Das und vieles mehr stand auf den Plakaten, und Hannah fuhr mit ausgebreiteten Armen auf die Plakate zu, als wollte sie mich darauf umarmen.
    Sie wartete auf einer Anhöhe und rief mir entgegen: Ich solle absteigen. Ich solle die letzten Meter schieben. Und die Augen schließen. Und als ich bei ihr war, sollte ich die Augen wieder öffnen. Und ich sah die Alpen. Siehst du das? Die Alpen. Sie schienen nur noch wenige Täler von uns entfernt. Und vor den Alpen war der Bodensee. Man ahnte ihn jedenfalls. Er lag in einer diffusen Senke. Und es ging ab jetzt nur noch bergab. Was Hannah berauschte. Wir fuhren durch ein Spalier immer dichter hängender Wahlplakate: Jetzt erst recht. Jede Stimme zählt. Jede Stimme für Urspring … So als wollte man diese Gegend beknieen. Oder wachrütteln. Hannah fuhr freihändig an den Plakaten vorbei. Manchmal schien es: durch die Plakate hindurch. Es folgte ein Stakkato kleinerer Plakate: Und zwar. Und zwar jetzt. Und zwar Urspring. Und zwar richtig. Und Urspring blickte angespannt. Als könnte die Welt morgen untergehen, wenn nicht Urspring. Als könnte ein Ungeheuer kommen und all die Dörfer verschlingen – wenn nicht Urspring, wenn nicht jetzt, und zwar sofort. Und Hannah kreischte wegen des Wortes zwar . Es war für sie das schlimmste Wort des ganzen Wahlkampfes. Vielleicht sogar das schlimmste Wort der deutschen Sprache. Sie wusste es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher