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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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nicht. Sie fuhr mit ausgebreiteten Armen weiter, ohne jede Müdigkeit – fast ausgelassen, bis wir keine Wahlplakate mehr sahen. Dann hielt sie plötzlich an und sagte: Sie würde mich gerne umarmen. Und mich gerne küssen. Weil alles so schön sei, wenigstens in diesem Moment.
    Sie zeigte auf Bäume, unter denen wir liegen könnten. Und von wo aus wir vielleicht sogar die Sterne sehen könnten. Doch sie wollte lieber in ein Hotelbett. Sie war müde. Sie wollte duschen und schlafen. Gerne auch die ganze Nacht. Als ich später im Hotelbett auf die Uhr schaute, sagte sie: Du brauchst nicht auf die Uhr zu schauen. Für Lindau ist es ohnehin zu spät. Später wollte ich den Fernseher einschalten, und sie fragte: Was soll das? Warum jetzt plötzlich fernsehen? Ich wollte nicht wirklich fernsehen, sondern nur sehen …
    Was willst du sehen?
    Ob es vielleicht Neuigkeiten gibt?
    Welche Neuigkeiten?
    Vielleicht Neuigkeiten über uns. Ob man nach uns sucht? Und was man über uns sagt? Hannah antwortete: Lieber nicht.
    Es ärgerte sie das Wort Neuigkeiten. Als ob wir die ganze Zeit nur im Bett gelegen und Fernsehen geschaut und dabei nichts erlebt hätten, außer dem Gedanken, ob es vielleicht irgendwelche Neuigkeiten gebe. So klinge das.
    Später sagte sie, ich solle besser meinen Helm tragen. Selbst wenn wir gar nicht auf unseren Fahrrädern saßen, auch dann sagte sie: Bitte trage deinen Helm. Zur Sicherheit, sagte sie. Was sie damit meine, fragte ich: zur Sicherheit? Sie antwortete nicht. Oder nicht wirklich. Oder sie sagte: Man würde mich mit Helm nicht so leicht erkennen. Und das sei gut so. Also trug ich ab jetzt immer meinen Helm. Wenn wir irgendwo einkehrten, dann nur noch mit Helm, mit dem ich auf die Toilette ging und mich im Spiegel betrachtete und mich dabei kaum wiedererkannte. Siehst du, sagte Hannah. Und ich setzte den Helm nicht mehr ab. Ich saß mit ihm beim Mittagessen und auch beim Abendessen, und ich trug ihn selbst dann, wenn wir in ein Hotel kamen, meinen ständigen Helm. Ich trug ihn wie aus Vergesslichkeit oder Nachlässigkeit. Oder aus Pflichtgefühl, wenn wir morgens aufstanden und in den Frühstücksraum kamen – ab jetzt nur noch mit Sonnenbrille und mit Helm. Man nahm das einfach hin: Kaffee für den Herrn mit Helm. Ein hart gekochtes Ei für den Herrn mit Helm. So nannte man mich: der Herr mit Helm. Und zu Hannah sagte man: die Dame ohne Helm. Tee für die Dame ohne Helm. Und wir sahen andere Radfahrer, die sich neben uns setzten – ebenfalls mit Helm. Andächtig nickende ältere Radfahrer mit Helm. Sie grüßten uns. Von Helm zu Helm. Und selbst wenn Hannah mich küsste, dann küsste sie mich nur noch im Helm. Sonst wollte sie mich nicht mehr küssen. Nur als wir im Bodensee miteinander schwammen, da schwamm ich an ihrer Seite, ohne meinen Helm.
    Ob ich das sehen würde, sagte Hannah. Sie sah mein Gesicht in einem entfernten Fernseher. Er stand im Hintergrund einer Eisdiele. Ob ich das sehe!? Und ich drehte mich um und erschrak über mein Gesicht, und Hannah flüsterte mir zu, ich solle weniger auffällig schauen, man merke das sonst – trotz meines Helms. Wir verstanden nicht, was im Fernsehen gesagt wurde. Man sah nur das Bild von mir: eine Mischung aus Krankenfoto, Fahndungsfoto, Beileidsfoto.
    Hannah erzählte von einer Schulfreundin.
    Welche Schulfreundin?
    Eine Schulfreundin, die in ihrem Zimmer oft Kerzen angezündet hatte, bis eines Tages ein Vorhang Feuer fing und dann noch ein Vorhang und das Feuer sich in rasender Geschwindigkeit im ganzen Zimmer ausbreitete und sie das Feuer nicht mehr löschen konnte. So sehr sie es auch versuchte. Sie wollte das nicht wahrhaben. Wie so etwas möglich sein kann. Dass plötzlich ihr eigenes Zimmer Feuer fängt. Also schloss sie ihr Zimmer ab und ging aus dem Haus. So als wäre alles in bester Ordnung. Als würde es gar nicht wirklich brennen. Während das Haus in Flammen stand. Daran erinnerte Hannah das. Unsere Fahrradfahrt. Unser Zusammensein.
    Wir seien zwei Zufallsgefährten, so Hannah. Und als ich enttäuscht auf dieses Wort reagierte, sagte sie: Es gebe doch kaum etwas Schöneres und Innigeres als zwei Zufallsgefährten. Zwei Zufallsgefährten auf der Flucht. Oder zwei entlaufene Schüler. So fühle sich das an. Und sie erzählte mir, dass sie als Schülerin schon einmal davongelaufen war. Sie kenne also das Gefühl. Sie war in einem Internat zur Schule gegangen und eines Tages davongelaufen. Einfach so. Ohne einen Plan, wohin sie
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