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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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Lächeln war mehr Gutmütigkeit, als ich in ihm vermutet hätte. Betont ungezwungen zuckte er die Schultern und sagte: »Keine Ahnung. Ich wusste einfach nicht, was mit mir los war, verstehen Sie? Unfall? Ich einen Unfall? Wenn ich einen gehabt hätte, hätte ich's nicht mal gemerkt. Ich schätze, ich hab keinen gehabt. Das ist die sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Da kommt dann irgendwelches Zeug wieder ins Unterbewusstsein: dass man wieder in Vietnam ist, dass man wieder in der Army ist. Ich bin nicht besonders gebildet. Ich wusste das nicht mal. Die Leute waren wegen diesem und jenem so sauer auf mich und wussten nicht, was mit mir los war, und ich wusste es auch nicht - verstehen Sie? Ich hab keine gebildeten Freunde, die solche Sachen wissen. Meine Freunde sind allesamt Arschlöcher. Ich kann Ihnen sagen - richtige, garantiert hundertprozentige Arschlöcher, und wenn nicht, kriegen Sie den doppelten Preis zurück.« Wieder ein Schulterzucken. Komisch? Sollte das komisch sein? Nein, eher ein unbekümmert bösartiger Zug. »Was soll ich also machen?«, fragte er hilflos.
    Er spult eine Nummer für mich ab. Er spielt mit mir. Denn er weiß, dass ich weiß. Hier sind wir, ganz allein, hier oben, und ich weiß, und er weiß, dass ich weiß. Und der Bohrer weiß es auch. Alles, was du weißt, und alles, was du wissen musst, ist in den Stahl der spiralförmigen Schneide graviert.
    »Wie haben Sie erfahren, dass Sie PTBS hatten?«
    »Von einer farbigen Frau in der VA-Klinik. Entschuldigung. Einer afroamerikanischen Frau. Einer sehr intelligenten afroamerikanischen Frau. Sie hatte einen Masterabschluss. Haben Sie einen Masterabschluss?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Tja, sie hatte einen, und so hab ich dann herausgefunden, was ich eigentlich hatte. Sonst würde ich es bis heute nicht wissen. So hab ich was über mich selbst erfahren: was eigentlich mit mir los war. Sie haben's mir gesagt. Und nicht nur mir. Glauben Sie bloß nicht, nur mir. Tausende und Abertausende von Typen haben dasselbe wie ich. Tausende und Abertausende von Typen, die mitten in der Nacht aufwachen und wieder in Vietnam sind. Tausende und Abertausende von Typen, die Anrufe kriegen und nie zurückrufen. Tausende und Abertausende von Typen, die richtig schlechte Träume haben. Also hab ich dieser afroamerikanischen Frau von mir erzählt, und sie hat kapiert, was es war. Weil sie diesen Masterabschluss hatte, und sie hat mir gesagt, dass das alles in meinem Unterbewusstsein abläuft und dass es Tausenden und Abertausenden von Typen genauso geht. Das Unterbewusstsein. Das kann man nicht steuern. Es ist wie die Regierung. Es ist die Regierung. Es ist wie eine innere Regierung. Es bringt einen dazu, Sachen zu tun, die man gar nicht tun will. Tausende und Abertausende von Typen heiraten, und ihre Ehe ist zum Scheitern verurteilt, weil sie in ihrem Unterbewusstsein diese Wut und diesen Hass aus Vietnam haben. Sie hat mir das alles erklärt. Sie haben mich in Vietnam in eine C-41 der Air Force gesetzt, die mich auf die Philippinen gebracht hat, und von dort ging's mit World Airways zur Travis Air Force Base, und da haben sie mir dann zweihundert Dollar in die Hand gedrückt, damit ich nach Hause fahren konnte.
    Von Vietnam bis nach Hause hab ich also ungefähr drei Tage gebraucht. Da ist man dann also wieder in der Zivilisation. Und man ist zum Scheitern verurteilt. Und die Frau ebenfalls, selbst wenn das alles schon zehn Jahre her ist. Sie ist zum Scheitern verurteilt, aber was hat sie eigentlich getan, verdammt? Nichts.«
    »Haben Sie noch immer PTBS?«
    »Na ja, ich hab noch immer die Tendenz, mich zurückzuziehen, nicht? Was meinen Sie, was ich hier draußen tue?«
    »Aber Sie fahren nicht mehr betrunken Auto«, hörte ich mich sagen. »Sie bauen keine Unfälle mehr.«
    »Ich hab nie einen Unfall gebaut. Hören Sie denn nicht zu? Das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Jedenfalls nicht dass ich wüsste.«
    »Und die Ehe war zum Scheitern verurteilt.«
    »O ja. Meine Schuld. Hundertprozentig. Sie war eine wunderbare Frau. Völlig unschuldig. Alles meine Schuld. Immer alles meine Schuld. Sie hatte eindeutig was Besseres verdient als mich.«
    »Was ist aus ihr geworden?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. Ein trauriges Schulterzucken, ein Seufzer - es war eine komplette Schmierenkomödie, eine gewollt durchsichtige Schmierenkomödie. »Keine Ahnung. Ich hab ihr so viel Angst gemacht, dass sie weggelaufen ist. Ich hab der Frau eine Heidenangst
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