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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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überraschenden Beiklang, der keine Zweifel über Colemans Unfall offenließ. »Wenn da unten also irgendwas leuchtet«, fuhr er fort, »kommen die Fische angeschwommen. Ich schätze, sie haben sich an die Dunkelheit angepasst.«
    Nein, er ist nicht dumm. Er ist ein roher Mensch, er ist ein Mörder, aber er ist nicht so dumm, wie ich dachte. Ihm fehlt es nicht an Hirn. Unter der wie auch immer gearteten Verkleidung ist es selten das Hirn, an dem es fehlt.
    »Weil sie ja fressen müssen«, erklärte er mir ganz wissenschaftlich. »Sie finden da unten was zu fressen. Ihre Körper passen sich an die extreme Kälte an, und ihre Augen passen sich an die Dunkelheit an. Sie reagieren auf Bewegungen. Wenn sie irgendwas leuchten sehen oder die Schwingungen spüren, die der hüpfende Köder im Wasser macht, schwimmen sie hin. Sie wissen, dass das etwas Lebendiges ist, und es könnte essbar sein. Aber wenn man die Rute nicht wippen lässt, beißen sie nicht an. Wissen Sie, ich hab vorhin daran gedacht, wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihm zeigen, wie man die Rute wippen lassen muss. Ich würde ihm zeigen, wie man den Köder befestigt. Es gibt verschiedene Köder, müssen Sie wissen. Die meisten sind Fliegen- oder Bienenlarven, die für das Eisfischen gezüchtet werden. Wir würden zum Laden fahren, Les junior und ich, und sie kaufen. Man kriegt sie in einem kleinen Becher. Wissen Sie, wenn ich jetzt mit Les junior hier wäre, mit meinem Sohn, und nicht durch diese Scheiß-PTBS für den Rest meines Lebens zum Scheitern verurteilt wäre, dann würde ich ihm dieses ganze Zeug beibringen. Ich würde ihm auch beibringen, wie man mit dem Bohrer umgehen muss.« Er zeigte auf das Werkzeug, das noch immer gerade außerhalb seiner Reichweite auf dem Eis lag. »Ich hab einen Zwölfeinhalb-Zentimeter-Bohrer. Es gibt sie in allen Größen, von zehn Zentimeter bis zwanzig Zentimeter. Ich finde ein Zwölfeinhalb-Zentimeter-Loch am besten. Ideal. Hatte nie ein Problem, einen Fisch da durchzuziehen. Fünfzehn Zentimeter ist ein bisschen zu groß, und zwar, weil der Durchmesser zweieinhalb Zentimeter größer ist. Das klingt nach wenig, aber wenn Sie sich den Zwölfeinhalber mal ansehen - hier, ich zeig's Ihnen.« Er stand auf und hob den Bohrer auf. Trotz des gefütterten Overalls und der Stiefel, die ihn noch kleiner und stämmiger aussehen ließen, bewegte er sich gewandt auf dem Eis und hob den Bohrer mit einer Hand auf, so wie man auf dem Weg zur Bank den Schläger aufhebt, nachdem man mit einem Flugball Punkte gemacht hat. Er kam zu mir und hielt mir die lange, funkelnde Spitze des Bohrers vor das Gesicht. »Hier.«
    Hier. Hier war der Ursprung. Hier war der Kern. Hier.
    »Wenn Sie sich einen Zwölfeinhalber- und einen Fünfzehner-Bohrer ansehen«, sagte er, »dann merken Sie, dass das ein großer Unterschied ist. Wenn Sie mit der Hand durch dreißig, vierzig Zentimeter dickes Eis bohren wollen, brauchen Sie mit einem Fünfzehner viel mehr Kraft als mit einem Zwölfeinhalber. Mit dem hier komme ich in ungefähr zwanzig Sekunden durch fünfundvierzig Zentimeter dickes Eis. Wenn die Schneide schön scharf ist. Die Schärfe ist entscheidend. Man muss die Schneide immer schön scharf halten.«
    Ich nickte. »Es ist kalt hier auf dem Eis.«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Ich hab's bis jetzt gar nicht bemerkt, aber jetzt wird mir langsam kalt. Im Gesicht. Richtig unangenehm. Ich glaube, ich gehe lieber wieder zurück.« Und ich machte meinen ersten Schritt rückwärts, fort von dem dünnen Schneematsch um ihn und das Loch, in dem er fischte.
    »Kann ich verstehen. Jetzt wissen Sie ja Bescheid über das Eisfischen, oder? Vielleicht sollten Sie darüber mal ein Buch schreiben anstatt einen Krimi.«
    Mit kleinen, schlurfenden Rückwärts schritten ging ich ein, zwei Meter in Richtung Ufer, doch er hielt noch immer den Bohrer in der erhobenen Hand, die schneckenförmige Klinge noch immer auf der Höhe, wo eben meine Augen gewesen waren. Ich war klar besiegt und wich zurück. »Und jetzt kennen Sie meinen geheimen Ort. Über den wissen Sie auch Bescheid. Sie wissen alles«, sagte er. »Aber Sie werden keinem was verraten, oder? Es ist schön, wenn man einen geheimen Ort hat. Man verrät keinem was davon. Man lernt, den Mund zu halten.«
    »Bei mir ist Ihr Geheimnis sicher«, sagte ich.
    »Es gibt einen Bach, der kommt vom Berg runter, über Wasserfälle. Hab ich Ihnen das schon erzählt?« sagte er. »Ich hab die Quelle nie gefunden. Von da
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