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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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oben fließt ständig frisches Wasser in den See. Und am Südufer ist ein Abfluss.« Er wies mit dem Bohrer darauf, den er noch immer in der mit dem fingerlosen Handschuh bekleideten Hand hielt. »Und auf dem Grund des Sees gibt es auch viele Quellen. Das Wasser kommt von unten hoch, es wird also ständig erneuert. Es reinigt sich selbst. Und die Fische brauchen sauberes Wasser, damit sie nicht eingehen, sondern groß und stark werden. Dieser Ort hat alles, was man braucht. Und alles ist von Gott gemacht. Kein Mensch hat irgendwas damit zu tun. Darum ist es hier so sauber, und darum komme ich her. Wenn irgendein Mensch was damit zu tun hat, dann halt dich lieber fern. Das ist mein Motto. Das Motto von einem Typen mit einem Unterbewusstsein voll PTBS. Fern von den Menschen, nahe bei Gott. Also vergessen Sie nicht, dass das hier mein geheimer Ort bleiben soll. Und ein Geheimnis kommt nur heraus, Mr. Zuckerman, wenn einer es verrät.«
    »Das stimmt.«
    »Und, he, Mr. Zuckerman - das Buch.«
    »Was für ein Buch?«
    »Ihr Buch. Schicken Sie's mir.«
    »Sie kriegen es«, sagte ich. »Es ist schon so gut wie unterwegs.« Damit ging ich über das Eis zurück. Er war hinter mir und hielt den Bohrer in der Hand, als ich mich langsam in Bewegung setzte. Es war weit zum Ufer. Und wenn ich es auch bis dorthin schaffte, so wusste ich doch, dass die Zeiten, da ich ungestört allein in meinem Haus leben konnte, vorüber waren. Ich wusste, dass ich, sobald das Buch erschienen war, anderswo würde leben müssen.
    Am Ufer angekommen, drehte ich mich um und blickte zurück, um zu sehen, ob er mir doch noch in den Wald folgte, ob er vielleicht vorhatte, mich umzubringen, bevor ich Gelegenheit hatte, das Haus zu betreten, in dem Coleman Silk seine Jugend verbracht hatte, und mich, wie Steena Palsson vor mir, als weißer Gast seiner Familie in East Orange zum sonntäglichen Abendessen zu setzen. Ich brauchte ihn nur aus der Ferne zu sehen, um den Schrecken zu spüren, den der Bohrer mir einjagte, auch wenn Farley schon wieder auf seinem Eimer saß: Auf dem eisigen Weiß des Sees war ein winziger Punkt, und dieser Punkt war ein Mensch, der einzige Hinweis auf die Anwesenheit eines Menschen in dieser ganzen weiten Natur, wie das X eines Analphabeten auf einem Blatt Papier. Da war es - wenn auch nicht die ganze Geschichte, so doch das ganze Bild. Gegen Ende unseres Jahrhunderts bietet einem das Leben nur selten einen so unschuldigen, friedlichen Anblick wie diesen: Auf einem idyllischen Berg in Amerika sitzt ein Mann auf einem Eimer und fischt durch ein Loch im fünfundvierzig Zentimeter dicken Eis in einem See, dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird.
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