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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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ein Spinngewebe, und da es keinen Weg gab, ging ich einfach querfeldein zur anderen Seite, wo eine dünne Wand aus Bäumen stand; durch die Bäume sah ich ein zweites Feld, das ich ebenfalls überquerte und an dessen Ende ich eine zweite, massivere Wand aus dichtstehenden, hohen Nadelbäumen fand, und dahinter erblickte ich das schimmernde, ovale, an beiden Enden spitz zulaufende Auge eines zugefrorenen Sees. Ringsum erhoben sich schneegesprenkelte, bräunliche Hügel, und die höheren Bergrücken sahen aus wie etwas, was man hätte streicheln können, und verloren sich in der Entfernung. Von der Straße bis hierher waren es etwa fünfhundert Meter, und ich hatte etwas aufgestört, nein, ich war in etwas eingedrungen - ich hatte beinahe das Gefühl, etwas Ungesetzliches zu tun ... Ich war in eine Szenerie eingedrungen, die so ursprünglich, ja, ich würde sagen, so unversehrt, so heiter unverdorben war wie nur irgendein Binnengewässer in Neuengland. Der Ort gab einem einen Eindruck davon, wie es gewesen war, bevor der Mensch auf den Plan getreten war - das haben solche Orte oft an sich, und darum schätzt man sie so. Die Macht der Natur hat manchmal etwas sehr Beruhigendes, und dies war ein Ort der Beruhigung, der den trivialen Gedanken Einhalt gebot, ohne den Betrachter zugleich mit Erinnerungen an das Nichts der Lebensspanne und die Unendlichkeit des Todes einzuschüchtern. Er war in jeder Hinsicht beruhigend diesseits der Erhabenheit. Man konnte die Schönheit in sich aufnehmen, ohne sich klein und belanglos zu fühlen oder von Furcht erfüllt zu sein.
    Fast in der Mitte der Eisfläche saß eine einsame Gestalt in einem braunen Overall und mit einer schwarzen Mütze auf einem niedrigen gelben Eimer und beugte sich, eine gekürzte Angelrute in den behandschuhten Händen, über ein Loch im Eis. Ich trat erst auf das Eis, als ich sah, dass er aufgeblickt und mich bemerkt hatte. Ich wollte mich ihm nicht ungesehen nähern oder auf irgendeine Weise den Eindruck erwecken, als hätte ich das vor, nicht, wenn der Angler Les Farley war. Wenn es Les Farley war, dann war es jemand, den man tunlichst nicht überraschte.
    Natürlich dachte ich daran, umzukehren. Ich dachte daran, zurück zur Straße zu gehen, mich in den Wagen zu setzen und auf der Route 7 in Richtung Süden und durch Connecticut zur 684 und dann zum Garden State Parkway zu fahren. Ich dachte daran, dass ich mir Colemans früheres Zimmer würde ansehen können. Ich dachte daran, dass ich mir Colemans Bruder würde ansehen können, der Coleman für das, was er getan hatte, noch über den Tod hinaus hasste. Daran und an nichts anderes dachte ich, als ich über die weite Eisfläche ging, um mir Colemans Mörder anzusehen. Bis zu dem Augenblick, als ich sagte: »Hallo. Wie geht's?« dachte ich: Schleich dich an oder schleich dich nicht an - es macht keinen Unterschied. Du bist sowieso der Feind. Auf dieser leeren, eisweißen Bühne der einzige Feind.
    »Beißen sie?«, fragte ich.
    »Geht so.« Er warf mir nur einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder auf das Loch konzentrierte, eines von zwölf oder fünfzehn identischen Löchern, die, wahllos über ein paar Quadratmeter verteilt, in das steinharte Eis geschnitten worden waren. Höchstwahrscheinlich mit dem Bohrer, der auf dem Eis lag, nur wenige Schritte von dem Eimer entfernt, der in Wirklichkeit eine Geschirrspülwanne war. Er bestand aus einem etwa einen Meter zwanzig langen Metallschaft, der in einer ausladenden, zylindrisch gezogenen Bohrschnecke endete; ein starkes, ernst zu nehmendes Werkzeug, dessen beeindruckende Spitze - die mittels des abgewinkelten Griffstücks am oberen Ende des Schafts gedreht wurde - im Licht der Sonne glänzte wie neu. Ein Schneckenbohrer.
    »Es erfüllt seinen Zweck«, murmelte er. »Vertreibt mir die Zeit.«
    Es war, als wäre ich nicht der erste, sondern eher der fünfzigste, der zufällig auf das Eis eines fünfhundert Meter von einer kleinen Landstraße im Bergland entfernten Sees spaziert kam und sich erkundigte, ob die Fische bissen. Die schwarze Wollmütze war tief in die Stirn und über die Ohren gezogen, und da er außerdem einen dunklen, ergrauenden Kinnbart und einen dichten Schnurrbart hatte, war von seinem Gesicht nur ein schmaler Streifen zu sehen. Wenn es in irgendeiner Weise bemerkenswert war, so dadurch, dass es so breit war: Auf der horizontalen Achse war es ein offenes, längliches Feld. Die dunklen Augenbrauen waren lang und dicht, und die Augen waren blau
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