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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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fragen: ›Na, beißen sie?‹, sage ich: ›Kein bisschen. Ich glaube, hier sind überhaupt keine Fische drin.‹ Ich habe vielleicht schon dreißig gefangen. Ein Spitzentag. Aber ich sage zu ihnen: ›Ich glaub, ich pack's gleich. Ich bin schon seit zwei Stunden hier, und es hat keiner angebissen.‹ Dann drehen sie sich jedes Mal einfach um und gehen. Irgendwo anders hin. Und es spricht sich herum, dass man an dem See da oben nichts fängt. So geheim ist das hier. Man könnte sagen, dass ich nicht ganz ehrlich bin. Aber dieser Ort ist das am besten gehütete Geheimnis der Welt.«
    »Und jetzt kenne ich es«, sagte ich. Ich sah, dass es unmöglich war, ihn in ein komplizenhaftes Lachen über sein Täuschungsmanöver für Störenfriede wie mich einstimmen zu lassen, dass es unmöglich war, seine Anspannung durch ein Lächeln aufzulockern, und so versuchte ich es gar nicht erst. Mir wurde bewusst, dass wir, obgleich wir nichts wirklich Persönliches ausgetauscht hatten, durch seine Entscheidung, nicht durch meine, weiter eingetaucht waren, als ein Lächeln reichte. Ich befand mich in einem Gespräch, das hier draußen, an diesem abgelegenen, abgeschiedenen, eiskalten Ort, mit einmal von größter Bedeutung zu sein schien. »Ich weiß auch, dass Sie auf einem Haufen Fische sitzen«, sagte ich. »Wie viele heute?«
    »Na ja, Sie sehen aus wie einer, der ein Geheimnis für sich behalten kann. Ungefähr dreißig, fünfunddreißig. Ja, Sie sehen aus wie ein anständiger Mann. Ich glaube, ich kenne Sie. Sind Sie nicht der Schriftsteller?«
    »Das bin ich.«
    »Klar. Ich weiß, wo Sie wohnen. Gegenüber von dem Sumpfstück, wo immer der Reiher steht. Bei Dumouchel. In Dumouchels Haus.«
    »Ich habe es von Dumouchel gekauft. Sagen Sie, da ich ja ein Mann bin, der ein Geheimnis für sich behalten kann: Warum sitzen Sie ausgerechnet hier und nicht da drüben? Da ist dieser ganze zugefrorene See - wieso haben Sie sich diese Stelle ausgesucht?« Er tat eigentlich nicht gerade alles, um mich zum Bleiben zu bewegen, wogegen ich alles tat, um bleiben zu können.
    »Tja, man weiß es nie«, sagte er. »Man fängt immer da an, wo man sie das letzte Mal erwischt hat. Wenn man das letzte Mal welche gefangen hat, fängt man immer an derselben Stelle wieder an.«
    »Aha. Dann wäre das also geklärt. Das habe ich mich nämlich immer gefragt.« Geh jetzt, dachte ich. Das war genug Unterhaltung. Mehr als genug. Doch die Frage, wer er war, ließ mich nicht los. Die Tatsache, die er war, ließ mich nicht los. Das hier war keine Spekulation. Es war keine Meditation. Es war nicht das Denken, aus dem Romane entstehen. Das hier war die Sache selbst. Die Gesetze der Vorsicht, die in den vergangenen fünf Jahren mein Leben - mit Ausnahme meiner Arbeit - bestimmt hatten, waren plötzlich außer Kraft gesetzt. Ich hatte nicht umkehren können, als ich über das Eis zu ihm gegangen war, und ebenso wenig konnte ich mich jetzt umdrehen und fliehen. Es hatte nichts mit Mut zu tun. Es hatte nichts mit Vernunft oder Logik zu tun. Hier ist er. Damit hatte es etwas zu tun. Damit und mit meiner Angst. Da sitzt er, in seinem dicken braunen Overall, mit seiner schwarzen Wollmütze und den dick besohlten Gummistiefeln, die großen Hände in tarnfarbenen Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern, wie Jäger (oder Soldaten) sie benutzen, da sitzt der Mann, der Coleman und Faunia umgebracht hat. Ich bin sicher. Sie sind nicht einfach von der Straße abgekommen und in den Fluss gestürzt. Hier ist der Mörder. Er ist es. Wie kann ich da gehen?
    »Sind die Fische dann noch immer da?«, fragte ich ihn. »Wenn Sie zu der Stelle zurückgehen, an der Sie das letzte Mal waren?«
    »Nein, Sir. Die Fische bewegen sich in Schulen. Unter dem Eis. An einem Tag sind sie am Nordende des Sees, am nächsten Tag können sie aber schon am Südende sein. Es kommt vor, dass sie zweimal hintereinander an derselben Stelle sind. Dann sind sie noch da. Was sie im Allgemeinen machen: Sie tun sich zu Schulen zusammen und bewegen sich nicht viel, weil das Wasser so kalt ist. Sie können sich an die Wassertemperatur anpassen, und wenn das Wasser so kalt ist, bewegen sie sich nicht viel und brauchen darum nicht soviel Futter. Aber wenn man eine Stelle erwischt, wo eine Schule steht, fängt man viele Fische. Aber an manchen Tagen fischt man auf demselben See - man kann ihn nicht ganz abfischen, also versucht man es an fünf, sechs verschiedenen Stellen -, man bohrt seine Löcher und fängt gar
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