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Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
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nichts. Nicht einen einzigen Fisch. Man hat keine Schule gefunden. Also sitzt man einfach nur herum.«
    »Nahe bei Gott«, sagte ich.
    »Sie haben's erfasst.«
    Redegewandtheit war das letzte, was ich erwartet hatte, und darum faszinierte sie mich ebenso wie die Gründlichkeit, mit der er mir das Leben in einem eiskalten See erklärte. Woher wusste er, dass ich »der Schriftsteller« war? Wusste er auch, dass ich Colemans Freund gewesen war? Wusste er auch, dass ich auf Faunias Beerdigung gewesen war? Ich nahm an, dass er mittlerweile ebenso über mich - und meine Absichten hier - rätselte wie ich über ihn. Dieser weite, hell überkuppelte Raum, dieses kalte, überirdische Gewölbe hoch oben auf einem Berggipfel, das ein großes Oval aus steinhart gefrorenem Süßwasser barg, die uralten Vorgänge, die das Leben eines Sees, die Bildung von Eis, den Stoffwechsel von Fischen bestimmen, all diese geräuschlosen, zeitlosen Kräfte, die unnachgiebig arbeiteten - es war, als wären wir einander auf dem Dach der Welt begegnet: zwei verborgene, misstrauisch arbeitende Hirne, gegenseitiger Hass und Paranoia die einzige introspektive Betrachtung weit und breit.
    »Und an was denken Sie dann, wenn Sie keinen einzigen Fisch fangen?«, fragte ich. »An was denken Sie, wenn sie nicht beißen?«
    »Ich werd Ihnen sagen, an was ich gerade gedacht hab. Ich hab an eine ganze Menge Sachen gedacht. Ich hab an Slick Willie gedacht. Ich hab an unseren Präsidenten und sein Scheißglück gedacht. Ich hab an diesen Typen gedacht, dem alles erspart bleibt, und dann hab ich an die Typen gedacht, denen nichts erspart geblieben ist. Die sich nicht gedrückt haben und denen nichts erspart geblieben ist. Das ist nicht gerecht.«
    »Vietnam«, sagte ich.
    »Ja. Wir flogen mit diesen Scheißhubschraubern - beim zweiten Mal war ich Türschütze -, und ich hab gerade daran gedacht, wie wir einmal nach Nord-Vietnam geflogen sind, um zwei Piloten zu bergen. Ich hab hier draußen gesessen und daran gedacht. Slick Willie. Dieser Hurensohn. Wenn ich an diesen schleimigen Hurensohn denke, der auf Kosten der Steuerzahler im Oval Office sitzt und sich den Schwanz lutschen lässt, und wenn ich dann an die beiden Piloten denke ... Sie hatten einen Angriff auf den Hafen von Hanoi geflogen und ziemlich was abgekriegt, und wir fingen ihr Funksignal auf. Wir waren nicht mal ein Rettungshubschrauber, aber wir waren in der Nähe, und sie gaben einen Notruf durch und sagten, sie würden jetzt aussteigen, weil sie auf einer Flughöhe waren, in der sie aussteigen mussten, wenn sie nicht zusammen mit ihrer Kiste abstürzen wollten. Wir waren kein Rettungshubschrauber, sondern ein Gefechtshubschrauber, und wir sind auf gut Glück hingeflogen, um die beiden zu retten. Wir hatten nicht mal eine Genehmigung, wir sind einfach hingeflogen. Bei so was folgt man seinem Instinkt. Wir waren uns sofort einig, zwei Türschützen, der Pilot, der Kopilot, obwohl die Chancen nicht gutstanden, weil wir keine Deckung hatten. Aber wir sind trotzdem hingeflogen - wir wollten versuchen, sie rauszuholen.«
    Er erzählt mir eine Kriegsgeschichte, dachte ich. Er weiß, dass er das tut. Er will auf irgendetwas hinaus. Auf irgendetwas, was ich mitnehmen soll, zum Ufer, zu meinem Wagen, zu dem Haus, dessen Adresse er kennt, das hat er mir zu verstehen gegeben. Soll ich es als »der Schriftsteller« mitnehmen? Oder als jemand anders - als jemand, der ein Geheimnis von ihm kennt, das größer ist als das Geheimnis dieses Sees. Ich soll wissen, dass nicht viele Menschen gesehen haben, was er gesehen hat, gewesen sind, wo er gewesen ist, getan haben, was er getan hat und, wenn es sein muss, wieder tun kann. Er hat in Vietnam gemordet, und er hat den Mörder mitgebracht in die Berkshires, mitgebracht aus dem Land des Kriegs, dem Land des Grauens zu diesem vollkommen verständnislosen anderen Ort.
    Der Schneckenbohrer auf dem Eis. Die Unverblümtheit des Bohrers. Es war keine massivere Verkörperung unseres Hasses vorstellbar als der gnadenlose Stahl des Bohrers in dieser Abgeschiedenheit.
    »Wir dachten, okay, wir werden sterben, wir werden sterben. Und wir sind da raufgeflogen und haben ihre Signale angepeilt und einen Fallschirm runtergehen sehen, und dann sind wir auf einer Lichtung gelandet und haben den Typen ohne irgendwelche Probleme an Bord genommen. Er ist reingesprungen, wir haben ihn reingezogen, und weg waren wir, ohne irgendeinen Beschuss. Also fragen wir ihn: ›Hast du eine Ahnung,
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