Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der menschliche Makel

Der menschliche Makel

Titel: Der menschliche Makel
Autoren: Philip Roth
Vom Netzwerk:
und standen bemerkenswert weit auseinander, während die weich konturierte, wenig vorspringende Nase über dem Schnurrbart die eines Jungen war. In diesem schmalen Streifen zwischen der Wollmütze und der bärtigen Kinnpartie, den Les Farley zeigte, waren alle möglichen Prinzipien zu erkennen, sowohl geometrische als auch psychologische, und keines schien im Einklang mit den anderen zu stehen.
    »Schönes Plätzchen«, sagte ich.
    »Darum bin ich ja hier.«
    »Friedlich.«
    »Nahe bei Gott«, sagte er.
    »Ja? Haben Sie das Gefühl?«
    Jetzt legte er seine Außenhaut ab, die Schutzschicht der Insichgekehrtheit, er legte etwas von der Stimmung ab, in der ich ihn angetroffen hatte, und sah aus, als sei er bereit, mich nicht bloß als eine belanglose Ablenkung zu betrachten. Seine Haltung änderte sich nicht - er war noch immer mehr einer, der angelt, als einer, der ein Schwätzchen hält -, aber wenigstens verschwand ein wenig von der antisozialen Aura, als er mit einer Stimme sprach, die volltönender und nachdenklicher war, als ich erwartet hatte. Man hätte sie als gedankenvoll bezeichnen können, wenn auch auf eine gänzlich unpersönliche Weise.
    »Es ist weit oben auf einem Berg«, sagte er. »Nirgendwo Häuser. Keine Behausungen. Keine Häuser am See.« Nach jeder Feststellung machte er eine grüblerische Pause - feststellende Beobachtung, bedeutungsschweres Schweigen. Am Ende eines Satzes konnte man nur raten, ob er mit einem fertig war. »Hier draußen tut sich nicht allzu viel. Nicht allzu viel Lärm. Zwölf Hektar See. Und keiner von diesen Typen mit ihren Motorbohrern. Mit ihrem Lärm und Benzingestank. Zweihundertachtzig Hektar Wald und offenes, gutes Land. Ist einfach ein schöner Ort. Nur Stille und Frieden. Und sauber. Ein sauberer Ort. Weit weg von dem Gerenne und Gejage und dem ganzen Wahnsinn.« Schließlich ein Blick nach oben, um mich zu mustern. Um mich zu taxieren. Ein rascher
    Blick, der zu neunzig Prozent undurchsichtig und undeutlich, zu zehn Prozent aber erschreckend deutlich war. Ich konnte in diesem Mann keinen Hauch von Humor entdecken.
    »Und solange ich ihn geheim halten kann«, sagte er, »wird er das auch bleiben.«
    »Stimmt«, sagte ich.
    »Sie leben in Städten. Sie leben in dem Gerenne und Gejage ihrer Arbeit. Der Wahnsinn, zur Arbeit zu fahren. Der Wahnsinn in der Arbeit. Der Wahnsinn, von der Arbeit nach Hause zu fahren. Der Verkehr. Die Staus. Sie sind darin gefangen. Ich bin draußen.«
    Ich brauchte nicht zu fragen, wer »Sie« waren. Ich lebte vielleicht weit entfernt von irgendeiner Stadt, ich besaß vielleicht keinen Motorbohrer, aber ich war »Sie«, wir alle waren »Sie«, alle außer dem Mann, der auf dem Eis hockte, die kurze Angelrute wippen ließ und zu einem Loch im Eis sprach, einem Mann, der offenbar beschlossen hatte, weniger mit mir - als Verkörperung von »Ihnen« - als vielmehr mit dem kalten Wasser unter uns zu kommunizieren.
    »Vielleicht kommt mal ein Wanderer vorbei oder ein Langläufer oder einer wie Sie. Sieht meinen Wagen, irgendwie findet er dann auch mich, und dann kommt er an, weil, wenn einer auf dem Eis sitzt ... Leute wie Sie, die keine Angler sind - « er sah auf, um meine unverzeihliche Sieheit noch einmal in sich aufzunehmen und gnostisch zu erkennen. »Ich nehme an, Sie sind kein Angler.«
    »Nein, bin ich nicht. Ich hab Ihren Wagen gesehen. Es ist ein so schöner Tag - ich bin einfach herumgefahren.«
    »Tja, sie sind wie Sie«, sagte er, als habe er seit dem Augenblick, in dem ich am Ufer aufgetaucht war, keine Sekunde daran gezweifelt. »Sie kommen immer, wenn sie einen Angler sehen. Sie sind neugierig und fragen, was er schon gefangen hat und so. Also mache ich dann Folgendes ...« Doch hier schien seine Geschichte innezuhalten, zum Stehen gebracht durch den Gedanken: Was tue ich hier? Wovon rede ich da überhaupt? Als er weitersprach, begann mein Herz plötzlich vor Angst zu rasen. Jetzt, da ihm das Angeln verdorben ist, dachte ich, hat er beschlossen, seinen Spaß mit mir zu haben. Jetzt spult er seine Nummer ab. Jetzt angelt er nicht mehr, sondern ist Les und die vielen Dinge, die er ist und nicht ist.
    »Also mache ich dann Folgendes«, fuhr er fort. »Wenn ich Fische auf dem Eis hab, tue ich, was ich getan hab, als ich Sie gesehen habe. Ich hebe alle Fische, die ich gefangen habe, auf und stecke sie in eine Plastiktüte und lege sie unter den Eimer, auf dem ich sitze. Die Fische sind dann versteckt. Und wenn die Leute kommen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher