Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Meisterdieb

Der Meisterdieb

Titel: Der Meisterdieb
Autoren: Hans Kneifel
Vom Netzwerk:
ein mehr oder weniger flüchtiges Lächeln oder eine Süßigkeit. Es fehlte ihm nichts, und er genoss eine ebenso gute und auch harte Erziehung wie der Junge, dessen Spielzeug er weitaus mehr war als dessen Spielgefährte oder Freund. Nein, Chamor war kein Freund. Er war der verwöhnte Sohn eines reichen Mannes, der sich nicht selbst lange genug um seinen Sohn kümmern konnte oder wollte. Sein Geschrei hörte übergangslos auf.
    Wer war Shakar?
    Arruf kannte ihn nicht wirklich. Er wusste, dass er selbst auch noch zu jung und zu dumm war, um einen Menschen richtig zu erkennen. Nur eine Ahnung schlummerte in ihm, nicht mehr, nur ein Gefühl.
    Shakar, ein reicher, großer Mann von seltsamer Düsterkeit, mit verschlossenen Zügen und stets schweigsam. Shakar schien viel größer und hagerer zu sein als alle anderen Männer, mit denen es Arruf zu tun gehabt hatte. Zu ihm jedoch war dieser unverständliche Mann liebenswürdig, ja fast liebevoll; ein Umstand, den Arruf bei weitem nicht begriff.
    Der Sklave wandte sich an Arruf und sagte halb wütend, halb hilflos: »Gibt es ein Mittel, diesen kleinen Rasenden zur Ordnung zu bringen?«
    Chamor starrte ihn aus großen, erschrockenen Augen an.
    »Ich kenne keines«, sagte Arruf wahrheitsgemäß. »Wenn ich ihn schlage, verpetzt er mich bei seinem Vater.«
    »Wenn ich ihn bei seinem Vater verpetze«, sagte der zögernde Sklave, »lernt er überhaupt nichts mehr.«
    »Er lernt ohnehin nicht viel. Sein Vater wird ihn eines Tages enterben«, sagte Arruf und wunderte sich selbst über seine eigene Klugheit.
    »Du bist dumm und gemein. Ich hasse dich!« schrie Chamor, spuckte auf seine Tafel und wischte seine Schreiberei mit dem Handballen aus.
    Der Schreibsklave zog die Schultern hoch. Er war ratlos. Was sollte er tun? Es oblag nicht ihm, den jungen Herrn zu strafen. Nach einiger Überlegung sagte er schließlich: »Ich werde heute von euch nichts mehr verlangen. Ich gehe, um mit dem Herrn zu sprechen. Er wird entscheiden.«
    Chamor streckte ihm die Zunge heraus, sprang auf und rannte davon. Plötzlich hatte Arruf das Gefühl kommenden Unheils.
    »Und ich?« fragte er bekümmert. Aus dem Innern des Palasts kamen das Geschrei des anderen Jungen und wütende Antworten einer männlichen Stimme.
    »Du kannst hier im Schatten sitzen bleiben und weiter schreiben«, sagte der Sklave. »Du kannst es recht gut. Übe weiter.«
    *
    Die Tage kamen und gingen. Die Stunden wechselten einander ab; Schlaf, Essen, Arbeiten, Lernen und Streitigkeiten mit Chamor füllten die Zeit aus. Die Launen des Sohnes von Shakar beschäftigten weiterhin die Sklaven, und nur einige Tage lang, nachdem Shakar ihn gestraft hatte, war  Chamor das Musterbild eines fleißigen und gehorsamen Jungen.
    In den Nächten aber herrschte im Palast Ruhe.
    Freie und Sklaven schliefen, und nur die leichten Tritte der bewaffneten Wachen unterbrachen das Zirpen der Grillen und die Schreie der Nachtvögel in den Zweigen. Arruf hatte sich in seinem Lager zusammengerollt, sein Kopf ruhte auf dem zerknitterten Kissen. Seine Arme und Beine zuckten immer wieder, und ab und zu stieß er einen undeutlichen Laut aus.
    Arruf träumte einen grässlichen Traum.
    Außerhalb der Mauern schlichen schwarz gekleidete Gestalten durch die nächtlichen Schatten. Blanker Stahl blitzte in den Händen von Meuchelmördern auf. Ächzend sanken die Wächter zu Boden und verbluteten auf den Stufen. Knirschend öffneten sich die schweren Portale. Das Tappen nackter Füße und dünner Sohlen erfüllte die Zimmer und Korridore des Palasts.
    Ein schriller Schrei zerriss die nächtliche Ruhe.
    Irgendwo klirrte Metall auf Metall. Einige Flüche ertönten, dann schlug ein schwerer Körper auf die Bodenfliesen. Klappernd zerbarsten große, irdene Gefäße. Wieder ein heller Schrei, der in einem Gurgeln endete.
    Arruf erwachte schweißüberströmt und richtete sich auf seinem Lager auf. Vor dem kleinen Fenster des Raumes huschte eine Gestalt in rasendem Lauf vorbei. Er sah nur ihren Schatten. Ein zweiter Schatten rannte hinterher, und dann blitzte im Mondlicht ein Dolch auf. Ein klagender Schrei, ein Keuchen, dann verschmolzen beide Schatten miteinander.
    Von außerhalb des Palasts drang Lärm aus allen Richtungen. Zitternd vor Angst, kauerte Arruf in seiner Kammer. Die Geräusche schneller Schritte entfernten sich. Mit einem donnernden Krachen schlug das Portal zu. Dann breitete sich für kurze Zeit eine tödliche Ruhe in dem kleinen Palast aus. Noch immer wusste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher