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Der Meisterdieb

Der Meisterdieb

Titel: Der Meisterdieb
Autoren: Hans Kneifel
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verantwortungsbewusst. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und als er sich wieder der kleinen Tischgesellschaft zuwandte, war selbst Steinmann Sadagar nahe daran, Luxon jedes Wort zu glauben.
    »Ich bin fünf Sommer alt«, sagte Luxon mit veränderter Stimme. »Mein Name ist Arruf. Ich bin ein Sklave.«
    Mythor zog unbehaglich die Schultern hoch und sah, dass Luxon tief in seine Erinnerungen eingetaucht war. Nur einige Herzschläge lang tauchte er daraus wie aus einem Traum auf, um seinen Dienern Anweisungen zu geben. Lichter und Kerzen erschienen, und Tafeln voller Leckerbissen wurden aufgetragen. Über die goldene Stadt, ihre Felsen und den Brandungsgischt der Strudelsee legte sich die trüb-goldene Dunkelheit des Sonnenuntergangs.
    Luxon begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Sadagar und Mythor fragten sich, wie viel davon wahr und wie viel Legende und eigene Erfindung waren.
    *
    Chamor zog eine Grimasse, schielte nach dem Schreibsklaven und fing dann an, seine Holztafel mit Schriftzeichen voll zu malen. Seine Schrift war ungelenk, aber er war eifrig.
    Arruf nahm die Holzkohle, rief sich den letzten Satz ins Gedächtnis zurück und zeichnete Buchstaben um Buchstaben nach. Er hatte eine viel schönere, geradlinigere Schrift als der gleichaltrige Chamor, der einzige Sohn seines Herrn.
    »Seid ihr fertig?« fragte der Sklave. Er war alt und weißhaarig. Seine Hand zitterte aber nicht, als er Chamors Tafel ergriff und dicht vor seine Augen hielt.
    »Nein!« sagte Chamor schrill. »Arruf zwickt mich immer.«
    »Ich habe dich nicht gezwickt, du…!« schrie Arruf. Er hasste Chamor. Er war es leid, das Spielzeug für den verwöhnten Sohn des reichen Mannes zu sein.
    Der Sklave betrachtete die Holztafel sehr genau, rieb mit der Kuppe des Zeigefingers einige Buchstaben aus und schüttelte dann seinen Kopf. »Ein Drittel ist falsch, Chamor«, sagte er voll bedächtiger Traurigkeit. »Wenn du ein so reicher Mann werden willst, wie dein Vater es ist, musst du richtig schreiben und viel besser rechnen können. Verstehst du?«
    »Arruf hat mich immer ans Knie getreten!« rief Chamor aus.
    »Ich hab’s genau gesehen«, antwortete der Sklave. »Arruf hat dich weder gezwickt noch getreten.«
    »Aber er hat nichts geschrieben!«
    Chamor streckte Arruf seine Zunge heraus und trat ihm unter dem niedrigen Tisch gegen das Knie.
    »Er hat mehr geschrieben und besser als du«, sagte der Sklave.
    Arruf wuchs zusammen mit Chamor in diesem kleinen Palast auf. Er wusste nicht, was der Vater Chamors tat, aber er war reich und gut zu seinen Dienern. Oft war er tagelang nicht im Haus. Dann verwandelte sich Chamor in einen kleinen Satan und schikanierte ihn.
    »Er hat nicht mehr geschrieben!« beharrte Chamor und wurde von Augenblick zu Augenblick wütender.
    »Doch. Du musst dich anstrengen, damit du so schön schreiben kannst wie Arruf!«
    »Ich will nicht so sein wie Arruf!« plärrte Chamor.
    »Du sollst auch nicht so wie Arruf sein«, meinte der Sklave in unerschütterlicher Ruhe. »Du sollst besser sein als Arruf.«
    »Ich will aber nicht.«
    Arruf wusste, dass er besser rechnen und schöner schreiben konnte. Er turnte auch besser als Chamor. Trotzdem war Chamor glücklicher als Arruf, denn er hatte zumindest einen Vater. Es war Shakar, der Herr dieses Hauses, der keine Frau mehr sein eigen nannte und sich mit dunkelhaarigen Sklavinnen abgab.
    »Es ist nicht an mir«, begann der Schreibsklave des Herrn Shakar, zu dessen Obliegenheiten auch die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben des Hauses gehörte, »dir zu sagen, was du zu tun hast. Ich sage dir, dass ich dem Befehl deines Vaters gehorche. Er befahl mir, dich das Schreiben und Lesen zu lehren – genau das werde ich tun. Du solltest also besser nicht versuchen, deine Faulheit hinter Arruf zu verstecken.« »Ich werde es meinem Vater sagen«, schrie Chamor und trommelte mit den Absätzen auf dem Boden, »er wird dich auspeitschen!«
    Er warf seinen Griffel nach Arruf, aber er verfehlte ihn, weil sich Arruf blitzschnell geduckt hatte. Der Sklave holte kurz aus und versetzte dem Jungen eine Maulschelle, die Chamor vom Hocker warf. Augenblicklich begann Chamor ein durchdringendes Geheul auszustoßen. Arruf zuckte zurück; er wusste, dass ihn der Sohn des Hauses in den kommenden Stunden zum Ziel seiner Wut machen würde.
    Trotzdem…
    Arruf wurde gut gekleidet. Kein Sklave und keiner der freien Männer und Frauen in Shakars Palast ärgerte ihn. Jeder mochte ihn, schenkte ihm
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