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Der Meisterdieb

Der Meisterdieb

Titel: Der Meisterdieb
Autoren: Hans Kneifel
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Arruf nicht, was draußen vorgefallen war. Er versteckte sich unter den Decken und weinte.
    Er schrie vor Angst auf, als ihn eine Hand vorsichtig an der Schulter rüttelte. Das erste Tageslicht kam durch das Fenster. Trotzdem hielt der Mann, der riesengroß neben dem Lager aufragte, eine Öllampe mit vielen kleinen Flammen in der Hand. Arruf erkannte das verschlossene raue Gesicht des Herrn Shakar. Sofort wusste er, dass fürchterliche Dinge geschehen sein mussten. Shakar starrte ihn schweigend an, schließlich setzte er sich neben Arruf auf das Lager. »Du hast nichts gesehen und gehört, Arruf?«
    Arruf schluckte, zuckte die Schultern, und schließlich stotterte er hervor: »Ich habe geträumt. Da waren Geräusche und Messer, und jemand rannte schreiend davon.«
    »Es war kein Traum«, berichtigte Shakar mit trauriger Stimme. »Meuchelmörder sind in den Palast eingedrungen. Sie haben Menschen getötet und Gold geraubt.«
    Plötzlich wusste Arruf, ohne dass der Name gefallen wäre, dass die Mörder auch seinen Spielgefährten Chamor getötet hatten. Er war ganz sicher.
    Shakar sprach weiter, und es hörte sich an, als ob er ein Selbstgespräch führe: »Es war ein Mordanschlag, der eigentlich dir gegolten hat. Aber die Mörder verwechselten dich mit Chamor, und nun ist Chamor für dich gestorben. Du weißt es nicht, aber schon einmal musste ich einen Knaben für dich opfern. Es wird also Zeit, dass ich dich in ein neues Versteck bringe.«
    »Warum… muss ich aus dem Palast fort?« würgte Arruf unter Tränen hervor. Schwer legte sich die Hand des Wahlvaters auf seine magere Schulter.
    »Es geht nicht anders. Der nächste Dolch würde dich treffen, Arruf.«
    »Wer will mich töten?« fragte Arruf.
    »Das verstehst du noch nicht. Du aber musst leben. Eines fernen Tages wirst du dein Erbe antreten müssen. Deswegen werden dich fremde Menschen wegbringen und verstecken.«
    »Werde ich dich wiedersehen, Herr?«
    Shakar schüttelte langsam den Kopf. Die Lampe in seinen Fingern zitterte. Die Lichter und Schatten tanzten an den Wänden.
    »Wann muss ich fort?«
    Shakar zeigte auf die Tür. Arruf stand auf und ging über die kühlen Fliesen zur Tür.
    Dort standen zwei Männer, die ihn aufhoben und aus dem Palast brachten. Eine Sänfte nahm ihn auf, und es wurde ihm unmöglich gemacht, zu sehen, wohin man ihn brachte.
    *
    Nach einer Weile, in der die Teilnehmer des abendlichen Mahles schweigend ihren Gedanken nachhingen, fragte Kalathee fast flüsternd: »Und du hast deinen Wahlvater niemals mehr wiedergesehen?«
    »Nein«, antwortete Luxon. »Ich erinnere mich deutlich an sein Gesicht. Aber mit Wissen habe ich ihn niemals wieder getroffen. Mag sein, dass er sich mir in irgendeiner Verkleidung zeigte, aber…«
    »Wohin brachte man dich?« wollte Mythor wissen. Er war nicht sicher, ob er Luxons Erzählung glauben sollte.
    Welches Erbe mochte der Wahlvater gemeint haben? Das Erbe des Lichtboten etwa?
    »In einen finsteren Winkel von Sarphand, auf der untersten Ebene der Stadt. Ich ging von einem Versteck zum anderen. Höhlen, Löcher und Schlupfwinkel, andere Bilder habe ich nicht aus dieser Zeit. Ich erinnere mich an ein Leben, das von unvorstellbarer Einsamkeit war.«
    Luxon winkte einer Sklavin und ließ sich den Becher füllen. Dann holte er tief Luft und fuhr fort: »Als fünfjähriger Junge, wissbegierig und nicht abgestumpft, brauchte ich Freunde. Aber ich fand in dieser Zeit nicht einen einzigen. Gesichter und Gestalten kamen und gingen in unaufhörlichem Wechsel. Kaum wusste ich, wie einer meiner Lehrer, Herren oder Sklavenhalter hieß, verschwand er schon wieder und machte einem anderen Platz. Und dann kam die Zeit der Kämpfe.«
    Luxon ließ sich schwer in einen Sessel fallen, warf seinen Gästen einen Blick völligen Desinteresses zu und sagte: »Ich weiß nicht, wer gegen wen kämpfte. Aber immer wieder war ich in nächster Nähe. Ich kann heute die einzelnen Szenen nicht mehr deutlich auseinanderhalten, denn damals mochte ich sechs oder sieben Sommer alt gewesen sein, nicht mehr. Aber immer wieder tauchen Bilder von Kämpfen und vom Töten auf. Ich wurde in viele verschiedene Kleider gesteckt. Man gab mir viele unterschiedliche Namen. Aber ich blieb bei Arruf, denn dies war das einzige Mittel für den elternlosen Jungen, sich selbst zu begreifen, eine eigene Persönlichkeit zu bleiben. Heute, zurückblickend, muss ich folgendes sagen: Nach den ruhigen Jahren im Palast Shakars mussten wohl die darauffolgenden
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