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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder
Autoren: Werner Brorsen
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den Stiefeln gepackt, will den Körper, dessen Größe und Gewicht dem des Vaters fast gleichkommt, aus dem Schauer ziehen, da fährt ihm ein heißer Schreck in die Glieder. Johann, der mit aufgerissenen Augen ins Leere starrt, den Mund wie zum Schrei geformt, hat die linke Hand bewegt. Timm ist zur Salzsäule erstarrt, lässt den Bruder fallen. Verfolgt mit irrem Blick, wie ein Zittern durch den Leib des Totgeglaubten läuft.
    Wahnsinnige Angst packt ihn, den Abergläubigen, der als Kind nicht genug bekommen konnte von den Schauermärchen der alten Näherin Lene, von Todesgeistern, einäugigen Riesen, wandelnden Leichen und rachsüchtigen Mordopfern.
    Die Knie versagen ihm. Kaum wagt er zu atmen. Und kann doch den Blick nicht wenden von dem vor Stunden Niedergeschlagenen. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er „die Sache“ nicht zu Ende bringen wird. Dass er, gedemütigt von den groben Brüdern, geblendet von der Aussicht auf Reichtum und Unabhängigkeit, zu hoch gepokert hat.
    Der Glockenschlag der Kirchenuhr von Sankt Nicolai, ein einziger, reißt ihn aus der Starre. Mehr kriechend als gehend bewegt er sich zur Werkbank, greift wahllos einen schweren Schmiedehammer. Torkelt zurück. Mehrmals schlägt er zu. Wirft den blutigen Hammer ins Dunkel.
    Er wankt hinaus, lehnt sich mit beiden Händen an die Schuppentür und übergibt sich. Der Schreck hat ihm alle Kraft genommen. Und für kurze Zeit auch der kalten Logik beraubt, mit der er bisher seine Verbrechen beging. Unfähig, den schweren Körper Johanns auch nur um einen Meter zu bewegen, lässt er ihn unmittelbar hinter der Tür des Schuppens liegen.
    7
    Elend fühlt Timm Thode sich. Kraftlos. Ausgelaugt. Er ahnt, dass Johanns Leiche, drinnen im Wagenschauer, ihn entlarven und dem Gericht ausliefern wird. Aber nie, niemals wird er es schaffen, den 200   Pfund schweren Körper in die Scheune oder ins Wohnhaus zu schleifen zu den anderen, die dort mit zerschmetterten Schädeln und verrenkten Gliedern liegen. Mit fatalistischem Gleichmut wird ihm bewusst, dass sein sorgsam vorbedachter und bisher durch Zufälle begünstigter Zeitplan durcheinandergeraten ist. Längst hat die Turmuhr Eins geschlagen. Längst sollten Haus und Hof in Flammen stehen.
    Er knirscht mit den Zähnen, wie so oft, wenn Schreckensträume ihn heimsuchen. Wenn klappernde Skelette, Furcht erregende Fratzen, besenreitende Hexen und hungrige Menschenfresser ihn aus dem Schlaf hochschrecken lassen. Täänknacker haben ihn die Brüder genannt. Und ihn mit weiteren Beinamen gefoppt: Dödelkopp, Fuulsack, Dummbüddel, Lakenpisser. Und er weiß: Wenn er nicht binnen einer halben Stunde sein Vorhaben zu Ende bringt, ist er schon in dieser Nacht verloren.
    Fahrig reißt er in der düsteren Scheune Zündholz um Zündholz an. Legt Feuer an drei Stellen. Sieht die Flammen gierig am Stroh emporzüngeln. Raus hier! Er versucht zu rennen. Stolpert und stürzt. Weiter, nur weiter! Ins Haus, in die Goode Stuuv, die nur bei Familienfeiern und an Festtagen benutzt wird, oder wenn Besuch kommt. Zwischen mächtigen, mit Schonbezügen geschützten Sesseln und hochlehnigen Stühlen tastet er sich zum Fenster, reißt den Samtvorhang beiseite. Das Vertiko, ein halbhoher Eichenschrank, ist verschlossen. Wieder knirscht Timm mit den Zähnen. „Verdammt!“ Er hat nicht bedacht, dem Alten den Schlüssel abzunehmen, den dieser stets in der Westentasche bei sich trägt.
    Suchend blickt er sich um in dem großen, im Mondlicht kalt und abweisend wirkenden Raum. Entdeckt den eisernen Schürhaken neben dem bis zur Decke reichenden weißen Kachelofen. Ungeschickt versucht er, die obere Schublade aufzuhebeln. Das harte, trockene Holz knackt und knirscht. Geschafft!
    Er greift hinein. Abrechnungen mit Mühlenbesitzern, Schlachtermeistern, Viehhändlern, Quittungen, ein Schreibblock, das Neue Testament. Fieberhaft sucht er weiter. Findet im untersten Fach die Kassette. Wirft sie durchs Fenster auf den Hof. Springt hinterher.
    Die Flammen haben das Dach der Scheune erreicht. Timm rafft die schwere Eichenkassette, hastet in Richtung Hoftor. Schaut sich im Laufen um. Und gerät erneut in Panik. Dat Huus!
    Wie eine Trutzburg steht es da in der selbstbewussten, unerschütterlichen Würde, die von großen alten Bauernhäusern ausgeht, jetzt im Feuerschein der brennenden Scheune. Timm wirft die Kassette hin, rennt ins Haus, in die Küche und die angrenzende Besenkammer. Packt einen Stapel alter Zeitungen, reißt sie auseinander, legt
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