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Der Marschenmörder

Der Marschenmörder

Titel: Der Marschenmörder
Autoren: Werner Brorsen
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selbst unerklärlichem Grund vermeidet er, Nachbarn und Bekannten, die ihn kurz und heiser ansprechen, zu berichten, dass sich zumindest ein Familienmitglied retten konnte und in seinem Haus Hilfe und Unterkunft gefunden hat.
    Plötzlich kommt nervöse Bewegung in die Menschenmenge. Alle blicken gespannt auf das durch Flammen weitgehend zerstörte Eingangstor zur Groot-Deel. Da wird von drei, vier kräftigen Männern etwas auf einem dicken Brett herausgetragen. Eines der Opfer? Ein Mann? Nein. Eine Frau. Erkennbar an Resten eines Kleides oder Nachthemdes.
    Jakob Schwarzkopf hält sich, zitternd und verkrampft, an seinem Gehstock aufrecht. Er will nicht wissen, wen sie aus dem Haus geborgen haben. Weg will er, weg von der Stätte des Grauens. Zurück in die behagliche Geborgenheit seines Hauses. Sich um Hanne kümmern. Und um Timm. Er bahnt sich mühsam den Weg durch die Menge. Schaut sich nicht um und sieht nicht, dass drei weitere Opfer aus dem Haus geborgen werden.
    Hinrich Ahrens, in Uniform und mit Pickelhaube auf dem Kopf, holt ihn ein. Legt ihm die Hand auf die Schulter. „Ik heff dien Jehann na Itzeho schickt, na den Justizrood Rötger. De mutt her.“ Schaudernd blickt er sich um. „Dat hier is toveel för mi alleen. Dat is wat för den Landrichder.“
    Jakob Schwarzkopf runzelt die Stirn. Er hätte jetzt, in der Stunde der Not, gern seinen vernunftbegabten, zupackenden Sohn an seiner Seite. „Harr dat nich Tied hatt, bet dat hell ward?“ Der Gendarm strafft sich, wird Amtsperson: „Joggob, dat hier is nich bloots een Füür. Dat hier is Mord un Dootslag!“
    Verwirrt sieht Jakob Schwarzkopf dem Dorfgendarmen nach. Auf dem kurzen, beschwerlichen Heimweg geht ihm nicht aus dem Sinn, was Hinrich Ahrens sagte, bevor er zu dem vom Feuer verschonten Backhaus eilte, hinter dem die vier bisher geborgenen Opfer liegen: „Dat hier is nich bloots een Füür. Dat is Mord un Dootslag!“
    Mord und Totschlag? Was hat Hinrich, der ausgeglichene, pflichtbewusste Ordnungshüter, der nie zu Übertreibungen neigt, damit gemeint? Die wachsende, mittlerweile den Fortgang der Löscharbeiten behindernde Menge der Neugierigen? Das in Chaos ausartende Durcheinander der Helfer? Oder gar …? Jakob Schwarzkopf bleibt stehen, blickt ratlos zu Boden. Oder gar das Schicksal der Toten?
    Ik mutt Timm fragen, flüstert er sich zu. Und erinnert sich: De hett mi jümmers allens vertellt. Er beschleunigt seine Schritte, so gut es geht. In der Küche brennt Licht. Er stockt, bevor er die Tür öffnet. Wie soll er Hanne beschreiben, was er erlebt hat? Und Timm, der allein niemals zurechtkommen wird?
    Besorgt blickt er zu Hanne hinüber, die, auf einem Küchenstuhl sitzend, eingeschlafen war und trotz seines behutsamen Eintretens aufwacht und ihn mit verquollenen Augen ansieht. Se weet allens, stellt er fest. Hat es erfahren von Nachbarinnen oder Vorübergehenden.
    Mit unbeholfener Zärtlichkeit streichelt er ihr Haar, ihr mütterliches Gesicht. Lässt sich seufzend ihr gegenüber am Tisch nieder. Blickt schweigend auf Timm, der mit geschlossenen Augen flach atmend unter einer Wolldecke auf der Küchenbank liegt.
    Mit schläfriger Stimme berichtet Hanne vom Beidenflether Doktor Dreessen, dem beliebten und hoch geachteten Dorfarzt, der eine Art Lähmung der Gehirntätigkeit durch ein erschütterndes Ereignis festgestellt und kühle Essig-Umschläge verordnet hat. Auch habe er beschlossen, beim nächsten Besuch heute Vormittag einen Kollegen aus Itzehoe hinzuzuziehen.
    Das macht Jakob Schwarzkopf hellhörig. Ein weiterer Arzt? Bei einem Fall von Ohnmacht aus Erschöpfung? Und wieder schießt ihm durch den Sinn: „Mord un Dootslag“. Doch von dem grausigen Erlebnis auf dem Thode-Hof kommt ihm kein Wort über die Lippen.
    „Gah slapen. Ik bliev bi em“, schlägt er seiner Frau vor. Er weiß, dass er trotz seines elenden Zustandes keine Ruhe finden wird. Leicht protestierend und erst, nachdem sie ihrem Mann einen starken Kaffee bereitet hat, schlürft Hanne zu ihrem Alkoven.
    Mit einer Mischung aus Mitleid und Sorge betrachtet der alte Bauer das blasse Gesicht des Bewusstlosen. Und ihn erfasst, wie so oft, wenn Timm sich bei ihm beklagte, eine väterliche Zuneigung zu dem verschlossenen Eigenbrötler. Unbewusst nickt er: „Jo, mien Jung, du hest mi jümmers allens vertellt. Hest dien Hart uutschütt, wenn se di to dull argert harrn. Un du warst mi seggen, wat dat op sik hett mit Mord un Dootslag.“
    11
    Kummervoll schaut Jakob Schwarzkopf
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