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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen
Autoren: David Morrell
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alt, klein, schlank und mit spärlichem grauen Haar, war bei Kollegen und Studenten gleichermaßen beliebt und geachtet. Für ihn begannen nun die letzten siebzig Minuten seines Lebens, und wenn es dabei überhaupt einen Trost gäbe, dann diesen: Sterbend war er wenigstens mit dem beschäftigt, was ihm am meisten Spaß machte.
    »Eigentlich hatten die Maya wenig Interesse daran, Jungfrauen zu opfern«, fügte Professor Mill hinzu. »Die meisten in heiligen Brunnen – diese werden übrigens als cenotes bezeichnet – gefundenen Skelette stammen von männlichen Wesen, und zwar hauptsächlich von Knaben.«
    Die Studenten verzogen angewidert die Gesichter.
    »Natürlich haben die Maya die Herzen aus dem lebenden Körper herausgeschnitten«, sagte Professor Mill. »Doch das ist der langweiligste Teil des Rituals. Sie nahmen also einen Feind gefangen, entkleideten ihn, malten ihn blau an, schleppten ihn hinauf auf eine Pyramide, wo sie ihm das Rückgrat brachen, ohne ihn zu töten.
    Zumindest nicht gleich, denn fürs erste kam es darauf an, ihn zu lähmen. Dann rissen sie ihm das noch pochende Herz heraus, und jetzt erst starb er. Im gleichen Augenblick hielt der Opferpriester das Herz hoch und zeigte es der Menge. Das heraussprudelnde Blut wurde über die Göttermasken geschmiert, die in die Mauern des Tempels gehauen waren. Es gibt Hinweise darauf, daß der Priester das Herz anschließend verspeist hat. Soviel steht aber fest: Der verstümmelte Leichnam des Opfers wurde die Stufen der Pyramide hinuntergeworfen.«
    Professor Mill wechselte gekonnt die Tonart, aus dem Entertainer wurde wieder der Dozent. »Wie Sie wissen, ist dies ein interdisziplinäres Seminar. Einige von Ihnen sind Kunsthistoriker, andere Ethnologen und Archäologen. Wir sind hier, um Maya-Hieroglyphen zu untersuchen, zu entziffern und das gewonnene Wissen zur Rekonstruktion der Maya-Kultur einzusetzen. Bitte schlagen Sie Seite neunundsiebzig in Charles Gallenkamps Maya: The Riddle and Rediscovery of a Lost Civilization auf.«
    Mißmutig betrachteten die Studenten ein verwirrendes Diagramm, das einem Totempfahl glich und zwei absteigende Reihen von Grimassen darstellte, von Linien, Punkten und Schnörkeln eingerahmt.
    »Ja, ich weiß, Sie fürchten, diesen Wirrwarr von Symbolen nie enträtseln zu können. Aber ich versichere Ihnen, Sie werden bald in der Lage sein, mit diesen Hieroglyphen Laute zu verbinden und sie zu lesen, als seien es Sätze.« Er machte eine dramatische Pause und richtete sich auf. »Sie werden lernen, die alte Maya-Sprache zu sprechen, und dann werden Sie mir recht geben: Geschichten über Menschenopfer sind langweilig. Hier« – er deutete auf die Schriftzeichen in Gallenkamps Buch – »hier hingegen wird es wirklich aufregend.«
    Er griff nach einem Stück Kreide und schrieb hastig Zeichen auf die Wandtafel.

    »Sie werden feststellen, daß viele Hieroglyphenspalten so aussehen. Es handelt sich dabei um eine Datumsangabe. Jeder Punkt hat den Wert 1. Ein Strich oder Balken bedeutet 5. Folglich bedeutet die erste Gruppe 4, die zweite 8, die dritte 12 und die vierte 16. Aber wenn Sie alle Zahlen zusammenfügen, ergibt die Jahreszahl überhaupt keinen Sinn für Sie. Denn die Maya benutzten einen anderen Kalender als wir. Einen bedeutend komplizierteren. Der erste Schritt zum Verständnis der Maya-Zivilisation ist also das Verständnis ihres Zeitbegriffs.«
    Professor Mill dozierte auf diese Weise weiter und hatte offenbar großen Spaß an dem Thema. Noch hatte er etwa zwanzig Minuten zu leben. Er beendete das Seminar mit einem Scherz, den er stets an dieser Stelle einflocht, beantwortete einige Fragen wartender Studenten und packte danach Bücher, Notizen und den Stundenplan in seine Aktentasche.
    Sein Büro lag nur fünf Minuten zu Fuß vom Lehrgebäude entfernt. Professor Mill atmete beim Gehen tief und zufrieden durch. Alles in allem fühlte er sich hervorragend, und sein Wohlbehagen wurde noch durch die Vorfreude auf die Verabredung nach dem Seminar erhöht.
    Sein Büro befand sich in einem unansehnlichen Backsteinbau, doch die trostlose Umgebung beeinträchtigte Professor Mills Stimmung nicht. Vielmehr war er so energiegeladen, daß er sich nicht den Studenten am Fahrstuhl anschloß, sondern die beiden Treppen zu dem spärlich erleuchteten Korridor hinaufeilte. Nachdem er die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgeschlossen (noch zehn Minuten zu leben!) und die Aktentasche auf den Schreibtisch gestellt hatte, wollte er schnell
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