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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen
Autoren: David Morrell
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Prolog
 
    Mexiko 1562
     
    Vierzig Jahre nach der Ankunft der spanischen Eroberer in der Neuen Welt war die systematische Ausrottung der einheimischen Bevölkerung bereits in vollem Gang. Der Völkermord wurde noch durch die epidemische Verbreitung in der Neuen Welt bisher unbekannter Krankheiten wie Pocken, Masern, Mumps und Grippe unterstützt. Diejenigen, die nicht den Seuchen zum Opfer fielen, wurden mit der Peitsche in die Knie gezwungen und versklavt, unzählige Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und die Bewohner in Arbeitslagern zusammengetrieben. Mit allen Mitteln, besonders mit der Folter, zwangen die Spanier die Eingeborenen zur Unterwerfung unter die Kultur der europäischen Machthaber.
    Auf der Halbinsel Yucatán im äußersten Südosten Mexikos empörte sich Diego de Landa, ein Missionar des Franziskanerordens, heftig über Schlangenverehrung und Menschenopfer in der Maya-Religion. Entschlossen, diesen heidnischen Grausamkeiten ein Ende zu setzen, ordnete er die Zerstörung von Tempeln, Statuen, Fresken und allen Gegenständen mit religiöser Bedeutung an. Damit raubte er den Indianern nicht nur ihre Kultsymbole, er machte zugleich späteren Historikern die Entdeckung von Hinweisen unmöglich, die sie zur Entschlüsselung der erhalten gebliebenen schriftlichen Informationen über die verlorenen, uralten Bräuche benötigten.
    Den größten Triumph seines Vernichtungswerks feierte de Landa im Dorf Mani, wo er auf eine ganze Bibliothek von Maya-Handschriften stieß. Diese unersetzlichen Texte, wie dünne Fächer gefaltet, »enthielten« – so de Landas Report an seine Vorgesetzten – »nichts als Aberglauben und teuflische Lügen. Wir haben alle verbrannt.«
    Wir haben alle verbrannt.
    Ein heutiger Bewunderer des Altertums stöhnt vor Verzweiflung angesichts der selbstgerechten, engstirnigen Überzeugung, die aus diesen Worten spricht. Wie die Bücherverbrenner aller Zeiten war der blasierte de Landa vom unerschütterlichen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit erfüllt. Aber er hatte sich getäuscht. In mehrfacher Hinsicht. Die Maya-Codices enthielten außer den Lügen, wie de Landa die phantasievollen Mythen bezeichnete, historische und philosophische Wahrheiten. Und nicht alle Codices wurden zerstört. Die mit der Verbrennung beauftragten Spanier bargen drei der Faltbücher und nahmen sie als Souvenirs heimlich nach Europa mit, wo man später ihren unschätzbaren Wert erkannte.
    Sie werden als Codex Dresdensis, Codex Tro-Cortesianus und Codex Peresianus bezeichnet und gehören heute Bibliotheken in Dresden, Madrid und Paris. Ein vierter Codex, als Codex Grolerii bekannt und in Mexico City aufbewahrt, ist nach Expertenmeinung eine Fälschung und wird zur Zeit wissenschaftlich untersucht. Hartnäckigen Gerüchten zufolge gibt es einen fünften, angeblich authentischen Codex, der mehr Wahres als die anderen enthält, vor allem eine Wahrheit, eine entscheidende Wahrheit.
    Ein Beobachter unserer Tage mag fragen, wie Bruder de Landa reagieren würde, wenn man ihn aus der Hölle zurückholen und zwingen könnte, Zeuge eines Gemetzels zu sein, das – wenn nicht in seinem Ausmaß, so doch in seiner Unbarmherzigkeit mit de Landas Massaker im 16. Jahrhundert vergleichbar – vermieden worden wäre, wenn seine Inquisition nie stattgefunden hätte oder wenn de Landa der Profi gewesen wäre, der zu sein er vorgab, und seine abscheuliche Aufgabe tatsächlich hundertprozentig erfüllt hätte. Maní, der Name des Dorfes, wo de Landa die Handschriften fand und zerstörte, ist das Maya-Wort für »es ist vollendet«.
    Doch nichts war vollendet.

Erstes Kapitel
     
    1
     
    »Nun, ich kann mir vorstellen, daß Sie gern etwas über Menschenopfer hören möchten«, begann der Professor und ließ boshaft die Augen blitzen, um anzudeuten, daß das Studium der Geschichte auch einen Sinn für Sarkasmus erfordert. Jedesmal, wenn er dieses Seminar abhielt – und das tat er seit dreißig Jahren immer wieder –, eröffnete er es mit derselben Bemerkung, und jedesmal kam die erhoffte Reaktion: Die Studenten kicherten, warfen sich zustimmende Blicke zu und lehnten sich bequem zurück.
    »Zum Beispiel, wie man Jungfrauen das Herz herausschneidet«, fuhr der Professor fort, »wie man sie von Felsen hinab in Brunnen stürzt oder ähnliche Dinge.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als sei er mit den Prozeduren des Menschenopfers so sehr vertraut, daß ihn die Einzelheiten schon langweilten. Stephen Mill, achtundfünfzig Jahre
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