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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen
Autoren: David Morrell
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noch den Aufenthaltsraum für Lehrkräfte aufsuchen, hielt aber lächelnd inne, denn in der offenen Tür erschien sein Besucher.
    »Ich wollte gerade Kaffee holen«, sagte Professor Mill. »Hätten Sie gern einen?«
    »Nein, danke.« Der Besucher nickte grüßend und trat ein. »Mein Magen und Kaffee stehen miteinander auf Kriegsfuß. Ich leide ständig unter Sodbrennen. Vermutlich bekomme ich ein Magengeschwür.«
    Er war ein distinguiert aussehender Herr Mitte Dreißig. Das gepflegte Haar, der maßgeschneiderte Zweireiher und die leichten Schuhe aus Kalbsleder entsprachen seiner Tätigkeit als hochdotierter leitender Angestellter eines Industriekonzerns.
    »Magengeschwüre und Streß hängen eng zusammen. Sie sollten beizeiten etwas kürzertreten.« Professor Mill schüttelte ihm die Hand, und der Besucher setzte sich. »Nun, was haben Sie mir gebracht?«
    »Wieder Hieroglyphen zum Übersetzen.«
    »Ist es viel?«
    Der andere zuckte mit den Achseln. »Fünf Seiten.« Als auf dem Korridor einige Studenten vorbeigingen, runzelte er die Stirn. »Mir wäre es lieber, wir könnten das diskret behandeln.«
    »Selbstverständlich.« Professor Mill erhob sich, schloß die Tür und kehrte an den Schreibtisch zurück. »Maya-Seiten oder normale Seiten?«
    Der andere schien verwirrt und begriff dann. »Richtig, ich vergesse immer wieder, daß Maya-Seiten größer sind. Nein, unsere Seiten. Fotos im Format zwanzig mal fünfundzwanzig. Ich gehe davon aus, daß das beim letzten Mal vereinbarte Honorar akzeptabel ist.«
    »Fünfzigtausend Dollar? Sehr akzeptabel. Solange man mir genügend Zeit läßt.«
    »Kein Problem. Sie haben vier Wochen Zeit, wie beim letzten Mal. Derselbe Zahlungsmodus – die erste Hälfte jetzt, die zweite Hälfte bei Ablieferung. Ansonsten dieselben Bedingungen. Sie dürfen die Seiten nicht kopieren. Sie müssen über Ihre Arbeit Stillschweigen bewahren und dürfen die Übersetzung nicht mit einem Dritten besprechen.«
    »Seien Sie unbesorgt. Das werde ich nicht tun, und ich habe es bisher nicht getan«, antwortete Professor Mill, »obwohl die Übersetzung nichts enthält, was andere außer Ihnen, mir und Ihrem Chef interessieren könnte. Darf ich die Seiten mal sehen?«
    »Selbstverständlich.« Der Besucher griff in seine Aktentasche aus Krokodilleder und holte einen großen braunen Briefumschlag heraus.
    Professor Mill, der nur noch knapp eine Minute zu leben hatte, entnahm dem Umschlag fünf Fotos mit vielen Hieroglyphenreihen. Er schob Bücher auf dem Schreibtisch beiseite und breitete die Fotos so aus, daß die Schrift vertikal stand.
    »Gehören sie zum selben Text?«
    »Keine Ahnung. Ich habe nur den Auftrag, die Fotos abzugeben.«
    »Wahrscheinlich derselbe Text.« Professor Mill beugte sich mit einer Lupe dicht über die Fotos. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte die Treppe nicht so hinaufrennen sollen.«
    »Wie bitte?«
    »Nichts. Nur Selbstgespräche. Ist Ihnen auch warm?«
    »Ein bißchen.«
    Professor Mill zog sich die Jacke aus und wandte sich abermals den Fotos zu. Noch fünfzehn Sekunden zu leben. »Gut, lassen Sie sie hier und …«
    »Ja?«
    »Ich …«
    »Was?« fragte der andere.
    »Mir wird so komisch. Meine Hände …«
    »Was ist mit Ihren Händen?«
    »Gefühllos. Mein … Gesicht. Heiß.«
    Plötzlich rang Professor Mill nach Luft, griff sich an die Brust und sackte zusammen. Schlaff, mit offenem Mund und hängendem Kopf fiel er auf dem quietschenden Drehstuhl nach hinten. Sein Körper erbebte und regte sich gleich darauf nicht mehr.
    Der kleine Raum schien zu schrumpfen, als der Besucher aufstand. »Professor Mill?« Er fühlte den Puls, zuerst am Handgelenk, dann am Hals. »Professor Mill?« Er holte Gummihandschuhe aus seiner Aktentasche und streifte sie über, dann nahm er die Fotos mit der rechten Hand und ließ sie in den großen braunen Umschlag gleiten, den er mit der Linken aufhielt. Nun zog er sich vorsichtig zunächst den rechten, dann den linken Handschuh aus, darauf bedacht, keine Stelle zu berühren, die mit den Fotos in Kontakt gekommen war. Er ließ die Handschuhe in einen zweiten Umschlag fallen, schloß ihn und steckte beide Umschläge in die Aktentasche.
    Er öffnete die Tür. Keiner der Studenten oder Dozenten auf dem Korridor achtete auf ihn. Nach seiner Überzeugung war die beste Täuschung immer noch die Wahrheit. Deshalb eilte er ins Sekretariat, trat aufgeregt ein und rief der Sekretärin zu: »Schnell. Rufen
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