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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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neben mir. Er hatte einen Gehirntumor, ließ sich davon aber nicht unterkriegen.«
    »Ach, der! Nein – ich fürchte, den werden Sie nicht besuchen können.«
    »Warum? Ist er nicht mehr hier?«
    »Nein. Er ist tot.«
    Ich hing seit vier Tagen in der Luft, als ich überraschend einen Anruf von Maddys Vater erhielt. Ron wollte sich mit mir treffen und schlug das Humanities Café in der British Library in Euston vor. Was er wollte, verriet er mir nicht, aber die Wahl des Treffpunkts zerstreute meine Bedenken. Falls er mir eine Tracht Prügel verabreichen wollte, weil ich seine Tochter betrogen hatte, gab es dazu gewiss geeignetere Orte als die Nationalbibliothek.
    Ich hatte diese Kathedrale der Kultur noch nie betreten und fühlte mich unwillkürlich in meine Studienzeit zurückversetzt, als ich die weitläufige Piazza überquerte. Eine riesige Bronzestatue sah mit gestrengem Blick auf mich herab. »Isaac Newton, nach einer Zeichnung von William Blake«; zwei geniale Köpfe, gegen die sich mein hohler Schädel ausnahm wie ein schlechter Witz. Am oberen Ende der Treppe ragte eine riesige verglaste Regalsäule in die Höhe, die den Blick auf einige der Abermillionen Bücher freigab, die sich im Besitz der Bibliothek befanden. Sie beherbergte das gesamte Wissen der Menschheit – mich überkam ein Gefühl stiller Ehrfurcht, als ich den gedämpften Stimmen der Studenten und Gelehrten lauschte, die von den Wänden widerhallten.
    Ron erwartete mich bereits, als ich das Café betrat. Er saß an einem Tisch und stand auf, um mir die Hand zu schütteln. Trotz der Kränkung, die ich seiner Tochter zugefügt hatte, schien er mir keineswegs feindlich gesinnt zu sein, auch wenn mir die ganze Sache so peinlich war, dass ich ihm kaum in die Augen sehen konnte.
    »Vaughan, danke, dass du gekommen bist.«
    »Aber das ist doch selbstverständlich. Wie geht’s Maddy?«
    »Sie hält sich eigentlich den ganzen Tag in ihrem alten Zimmer auf. Ihre Mutter bringt ihr zwar regelmäßig etwas zu essen ans Bett, aber bis jetzt hat sie keinen Bissen angerührt …«
    »Hm. Und, äh … was treibst du so fern der Heimat?«
    »Nun ja, zu Hause bin ich Jean ohnehin nur im Weg, darum bin ich nach London hineingefahren und habe ein paar Recherchen über deine Krankheit angestellt. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?«
    Ich verspürte einen Anflug von Enttäuschung, weil er den weiten Weg nur auf sich genommen hatte, um mit mir über meinen Gedächtnisverlust zu sprechen. Insgeheim hatte ich gehofft, dass er mir eine Nachricht von Maddy überbringen würde; dass er sozusagen den Diplomaten spielte, dem die heikle Aufgabe zukam, eine historische Annäherung in die Wege zu leiten.
    »Ich glaube, ich habe ein paar interessante Fallstudien ausgegraben«, sagte er. Ich nickte freundlich, in der Hoffnung, dass er mir mein mangelndes Interesse an seinen Ausführungen nicht ansah. Ich hatte längst alles gelesen, was es über Amnesie und dissoziative Fugues zu lesen gab.
    Am Nebentisch saßen ein junger Student und seine Freundin und schmachteten sich an, über ein Glas Eiskaffee hinweg, den sie hingebungsvoll durch zwei ineinander verschlungene Strohhalme schlürften.
    »Ich behaupte nicht, dass all das auch in deinem Fall zutrifft, trotzdem solltest du es dir vielleicht mal anschauen.« Er deutete auf die aus diversen Nachschlagewerken und alten Fachzeitschriften herauskopierten Seiten, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
    »1957 widerfuhr einem New Yorker Geschäftsmann genau dasselbe wie dir. Als Vorstandsmitglied einer großen Firma war er erheblichem Stress ausgesetzt, hatte über Millionen von Dollar zu entscheiden, bis er eines Tages plötzlich verschwand. Als er eine Woche später gefunden wurde, wusste er weder, wer er war, noch womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.«
    »Zugegeben, den kannte ich noch nicht – aber ich habe über andere, ähnlich gelagerte Fälle gelesen.«
    »Ja, und genau wie du erlangte dieser Mann seine Erinnerungen nach und nach zurück, bis er schließlich so weit war, dass er wieder arbeiten und seinen Vorstandsposten ausfüllen konnte.«
    Der Student zog seinen Strohhalm aus dem Glas, damit seine Freundin den Milchschaum von der Spitze lecken konnte.
    »Aber kaum war er in sein altes Leben zurückgekehrt, erinnerte er sich mit einem Mal, dass er Firmengelder veruntreut hatte. Seine Schuldgefühle waren so groß, dass er ein Geständnis ablegte und seinen Hut nahm.«
    »Entschuldige, Ron – aber mir ist nicht
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