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Der Mann, der seine Frau vergaß

Der Mann, der seine Frau vergaß

Titel: Der Mann, der seine Frau vergaß
Autoren: John O'Farrell
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ganz klar, was mir das bringen soll. Auch ich habe mich an die schlimmsten Sachen zuallerletzt erinnert. Da ist es mir, ehrlich gesagt, kein großer Trost, dass mir womöglich noch Schlimmeres bevorsteht …«
    »Es lässt deinen Fehltritt in Paris vielleicht in einem etwas anderen Licht erscheinen.«
    Ich errötete bei der bloßen Erwähnung dieser Episode, und dass ausgerechnet mein Schwiegervater sie zur Sprache brachte, machte die Sache nicht eben besser. »Na ja, das Komische ist, dass ich mich nicht mal mehr daran erinnern kann. Auf der Party stand mir alles glasklar vor Augen. Aber das ist die erste zurückerlangte Erinnerung, die ich wieder vergessen habe.«
    »Genau das gehört zu den Symptomen!«, sagte Ron aufgeregt. »Das ist ja das Interessante daran. Seine Firma überprüfte das Geständnis, und an der Sache war nichts dran . Er hatte kein Geld unterschlagen. Die Erinnerung war falsch!«
    So aufgeregt hatte ich Ron noch nie erlebt.
    »Die Erinnerung war falsch? Wie kann das sein?«
    »Steht alles hier drin. Insgeheim hatte er Angst, sich den Strapazen seines alten Lebens zu stellen, und suchte unbewusst nach einem Vorwand, um sich davor zu drücken.«
    Ich sah mir die fotokopierten Seiten auf dem Tisch etwas genauer an.
    »Wo hast du das alles her?«
    »Aus Büchern. Hier aus der Bibliothek. Hattest du nicht gesagt, du hättest alles zu diesem Thema gelesen?«
    »Im Internet, ja.«
    »Tja, diese Beispiele sind schon etwas älter. Sie stammen aus einer Zeit, als es noch keine medizinischen Online-Journale und dergleichen gab. Aber es ist schon erstaunlich, was man in Bibliotheken alles findet, wenn man danach sucht.«
    »Du meinst, es gibt noch mehr?«
    »Ja – hier. Das habe ich in einem sehr interessanten Psychiatrie-Fachbuch aus den Dreißigerjahren entdeckt. Ein Stadtrat aus Lincoln gestand den Mord an einer Frau, die, wie sich herausstellte, noch lebte.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    »Die Betroffenen geben nicht etwa vor, sich an etwas zu erinnern. Sie glauben tatsächlich, dass sie diese Taten begangen haben.«
    Hastig überflog ich die ziemlich eng bedruckten Seiten, gespickt mit Fachausdrücken, die mir leidlich bekannt vorkamen. Der Theorie des längst verstorbenen Psychiaters zufolge gingen die falschen Erinnerungen der Patienten auf dieselbe Ursache zurück wie ihre Amnesie. Da sie außerstande waren, mit extremen Belastungen fertigzuwerden und obendrein unter Versagensängsten litten, hatte ihr Gehirn zu einer radikalen Lösung gegriffen: Es hatte sämtliche Erinnerungen an ihr anstrengendes Leben ausgelöscht beziehungsweise neue Erinnerungen erzeugt, die eine Rückkehr in ebendieses anstrengende Leben unmöglich machten.
    Was den Schluss nahelegte, dass ich mir meine Affäre mit großer Wahrscheinlichkeit nur eingebildet hatte.
    »Als ich einem Kollegen erzählte, weshalb Maddy und ich uns zum zweiten Mal getrennt haben, meinte er, Yolande könne damals gar nicht mit nach Paris gefahren sein, weil sie die Schule zu diesem Zeitpunkt längst verlassen hatte. Ich dachte, er hätte sich geirrt.«
    »Tja, wie es aussieht, hat dein Gehirn dir wieder einmal einen Streich gespielt.«
    »Ach, Ron, das ist fantastisch! Ich komme mir vor, als wäre ich aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hatte gar keine Affäre!«, verkündete ich etwas zu laut. Zwei ältere Damen mit einem Tablett voller Tee und Kekse gingen vorbei. »Ich habe meine Frau gar nicht betrogen!«, teilte ich ihnen freudestrahlend mit. »Das ist unglaublich. Weiß Maddy davon?«
    »Ja, ich habe gestern Abend mit ihr darüber gesprochen.«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Sie hat mich gebeten, hierherzukommen und es dir zu erklären.«
    »Und? Hat sie sich gefreut?«
    »Sie kam ein wenig ins Grübeln. Sie hat gesagt: ›Dann ist Vaughan also gar kein Ehebrecher …‹«
    »Ach, das ist fantastisch!«
    »… sondern nur ein hundsnormaler Irrer.‹«
    »Oh.«
    Am Nebentisch schrammte ein Stuhl über den Boden. Ein falsches Wort oder eine unbedachte Geste hatten den Unmut des Mädchens geweckt, und sie stürmte wütend davon, während ihr Freund ihr hilflos hinterherrief.
    »Würdest du ihr bitte ausrichten, dass Yolande gar nicht mit in Paris war? Und ich mich an keine Affäre mehr erinnern kann? Das beweist meine Unschuld, oder? Würdest du ihr das ausrichten und sie bitten, mich anzurufen?«
    »Du bist gar nicht verrückt, nicht wahr? Du bist bloß verrückt nach Maddy«, sagte er lächelnd. »Aber seien wir ehrlich: Wer wäre das
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