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Der Makedonier

Der Makedonier

Titel: Der Makedonier
Autoren: Nicholas Guild
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aus einem entfernten Bergdorf stammte, aber schon länger im königlichen Haushalt diente, als irgend jemand zurückdenken konnte. Sie hob nicht einmal den Blick, als Glaukon eintrat, sondern murmelte nur weiter vor sich hin. Es wäre auch nicht anders gewesen, wenn Amyntas selbst die Küche betreten hätte, denn Iokaste war zu alt, um sich noch vor jemand zu verneigen.
    Es dauerte eine Weile, bis Glaukon erkannte, daß das Bündel in ihren Armen ein Kind enthielt, ein Neugeborenes, nur wenige Stunden alt.
    »Unsere Herrin Eurydike hat einen Sohn zur Welt gebracht«, verkündete Nikomachos leise. »Aber sie kann das Kind nicht säugen – seine Geburt war eine schreckliche Sache, für ihn und für sie.«
    Er stand auf, als hätte er sein halbes Leben darauf gewartet, diese wenigen Worte zu sagen.
    »Bring ihn zu deiner Frau, Glaukon, und laß die beiden sich gegenseitig trösten.«
    Die beiden Männer sahen sich kurz an, dann drehte Nikomachos sich um und ging den Gang hinunter, der zum großen Saal führte. Schon nach wenigen Schritten hatte die Dunkelheit ihn verschluckt. Glaukon kauerte sich neben lokastes Bank und zog das Schaffell vom Gesicht des Kindes.
    Der neue Königssohn schlief, einige wenige Haarbüschel klebten an seinem Schädel, und das runde Gesicht mit den aufgedunsenen Augenlidern gaben ihm den Anschein tiefster Konzentration.
    Laß die beiden sich gegenseitig trösten. Glaukon erkannte, daß aus dem Rat des Arztes sowohl Mitleid wie Weisheit sprachen.
    »Wie heißt er?«
    lokaste hob den Kopf und warf ihm einen finsteren Blick zu, als wäre sie verärgert über die Einmischung.
    »Philipp«, sagte sie nach einer Weile. >»Der Freund der Pferde< – vielleicht will Amyntas einen Stallburschen aus ihm machen. Es wäre das beste für ihn.«
    Sie drückte das schlafende Kind fester an ihren Busen und starrte in die Flammen des Kohlenbeckens. Was sie dort sah, schien ihr nicht zu gefallen, denn in den Runzeln, die sich nun noch tiefer in ihr verwittertes altes Gesicht gruben, spiegelte sich eine Mischung aus Mitleid und Angst.
    »Er hat sein Leben damit begonnen, daß er versuchte, die Schnur zu zerreißen, die ihn mit seiner Mutter verband. Hast du das gewußt?«
    Glaukon schüttelte nur den Kopf. Aus alten Frauen sprach manchmal die Stimme der Prophezeiung, doch er war sich nicht sicher, ob es auch immer klug war, auf sie zu hören. Auf keinen Fall war es klug, in Zweifel zu ziehen, was sie sagte.
    »Ich glaube, er hat gut daran getan«, fuhr sie fort, »dennMutter und Sohn werden als Feinde leben – bis einer der Untergang des anderen ist. Schau doch nur, was für einen Anfang sie gemacht haben: Er hätte sie bei seiner Geburt beinahe getötet, und wenn unsere Herrin Eurydike nur die Kraft dazu gehabt hätte, hätte sie ihn verflucht, noch während er aus ihrem Schoß glitt. Ihr Bauch ist so voller Gift, als hätte sie Vipern darin anstelle von Gedärmen. Sie ist eine Lynkestis, eine Frau aus den Bergen, und sie weiß, wie man haßt.«
    »Du stammst doch selbst von dort, nicht, lokaste?«
    Ohne die Augen von dem Kind zu nehmen, nickte sie langsam und gestattete sich ein dünnes Lächeln, als würde sie sich für ein unbeabsichtigtes Kompliment bedanken.
    »Ja. Und deshalb verstehe ich sie. Und deshalb weiß ich auch, daß es kein schlimmeres Schicksal gibt als den Fluch einer Mutter, auch wenn sie nicht den Atem hatte, ihn auszusprechen.«
    Eine Weile schwieg sie, doch dann hob sie das Kind von sich weg und legte es Glaukon in die Arme. Der jüngste von König Amyntas’ Söhnen rührte sich und öffnete kurz die Augen, bevor er wieder in tiefen Schlaf sank.
    »Bring ihn weg«, sagte sie. »Sein Anblick macht mir das Herz schwer, denn sein Lebensblut wird durch Verrat vergossen werden.«
    Die königliche Bürde eng an die Brust gedrückt, ging Amyntas’ Haushofmeister durch die kalte, einsame Nacht nach Hause. Der Schneesturm hatte aufgehört, weiß und unberührt lag die Straße vor ihm im Mondlicht. Die Luft war von beinahe überirdischer Klarheit, so daß jede Kontur sich deutlich abzeichnete, als wäre es heller Tag.
    Glaukon überlegte, was er wohl im Gesicht seiner Frau sehen würde, wenn er sie aus ihrem gepeinigten, ruhelosen Schlaf aufweckte und ihr dieses Kind in seinem Schaffell in die Arme legte.
    »Ich gebe dir unseren Sohn zurück«, dachte er und wusstedabei, daß er diese Worte nie würde aussprechen können. »Unseren Sohn…«
    Er blieb stehen, weil er mußte, weil seine Tränen
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