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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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enthält. Ein Schrein in einer Schale.
    Anthony hätte es allerdings nicht gefallen, dass seine Steine in Olivias Schale auf dem Couchtisch liegen. Er wollte sie lieber aufgereiht haben, schnurgerade Steinparaden auf dem Boden, im ganzen Haus. Gott verhüte, dass Olivia je aufräumte und seine Steine zurück in die Kiste in seinem Kinderzimmer legte. Aber manchmal konnte sie sich nicht beherrschen. Manchmal wollte sie einfach nur durchs Haus gehen, ohne über eine Steinparade zu stolpern. Manchmal wollte sie einfach nur durch ein normales Haus gehen. Das war immer ein Riesenfehler. Sie lebten nicht in einem normalen Haus. Und mit einer Veränderung, egal wie klein, konnte Anthony sich nie anfreunden.
    Sie schaut in den Umschlag und sieht einen zusammengefalteten Bogen Briefpapier.
    Habe diese drei unter der Couch gefunden.
    Alles Liebe, David
    Sie lächelt, dankbar, dass er sich die Zeit nimmt, ihr drei Steine zu schicken, dass er weiß, wie sehr sie sich darüber freuen wird. Und für das Alles Liebe, David. Sie weiß, dass diese Worte nicht dahingeworfen oder unaufrichtig sind. Sie liebt ihn auch noch immer.
    Anthonys restliche Steine liegen in seiner Kiste, die jetzt in ihrem Schlafzimmer steht. Sie war eines der wenigen Dinge, die sie bei ihrer letzten Überfahrt hierher unbedingt mitnehmen wollte, und es war nicht leicht gewesen, sie herzuschaffen. Sie hat sich damit abgeschleppt, hat geschwitzt und an ihrer geistigen Gesundheit gezweifelt, von der Rückbank von Davids Wagen zur Fähre in Hyannis, von der Fähre zum Taxi in der Stadt, vom Taxi zu ihrem Schlafzimmer hier. Mehr als einmal hat sie während der Überfahrt mit dem Gedanken gespielt, die Steine einfach über Bord zu werfen, sich von der physischen und emotionalen Last zu befreien, diese ganzen verdammten Steine mit sich zu schleppen. Aber es sind Anthonys verdammte Steine. Schöne, verdammte Steine, am Strand gesammelt und wie besessen aufgereiht von ihrem hübschen Jungen, und jetzt kunstvoll ausgestellt in der Glasschale auf dem Couchtisch.
    Und so sind die verdammten Steine mitgekommen. Sie hat ihre Kochbücher zurückgelassen, ihre Sammlung von Büchern, an denen sie bei Taylor Krepps mitgearbeitet hat, ihre ganzen Romane. Sie hat nichts von den Möbeln, Haushaltsgeräten oder dem Geschirr mitgenommen. Sie hat Anthonys Kleider, noch immer zusammengelegt, in seinen Schubladen gelassen, sein Bett ungemacht, seine Barney- DVD s in dem TV -Schränkchen, all die pädagogischen Spielzeuge, mit denen er nie spielte, seine Zahnbürste in der Halterung im Bad, seine Jacke an dem Haken neben der Haustür.
    Sie hat ihre Kleider mitgebracht, ihren Schmuck, ihre Kamera und ihren Laptop. Und sie hat ihre Tagebücher mitgebracht. Eines Tages wird sie den Mut haben, sie zu lesen.
    Außerdem hat sie ihre ganzen Fotos zurückgelassen – ihr College-Album, ihr Hochzeits- und ihr Flitterwochen-Album, die Sammlung künstlerischer Aufnahmen von Sonnenuntergängen und Bäumen und Muscheln, die sie gemacht hat und von denen die besten die Wände ihres Hauses schmücken, Anthonys Baby-Album. Sie hat das alles bei David zurückgelassen. Sie hat das Gefühl, als ob dieses Leben nicht ihr passiert ist. Es ist irgendeiner anderen Frau passiert.
    Nur ein Bild hat sie behalten. Sie sieht zu dem acht mal zehn Zoll großen Foto hoch, das gerahmt und mattiert an der Wand über dem Kamin hängt, das eine Foto, für das sie über viele Tage hinweg viele Stunden geduldig gewartet hat, um es zu bekommen. Sie erinnert sich, wie sie im Schneidersitz vor dem Kühlschrank saß, die Kamera vor dem Gesicht, den Finger auf dem Auslöser, bereit zu knipsen, wartend. Wartend. Anthony kam oft an ihr vorbei, auf den Zehenspitzen hüpfend, kreischend und mit den Händen fuchtelnd. Jedes Mal hielt sie den Atem an. Sie bewegte sich nicht. Er sah sie nicht an.
    Eines Tages setzte er sich nur ein paar Schritte vor ihr hin und drehte mindestens eine Stunde lang mit dem Zeigefinger das Hinterrad eines Spielzeuglasters. Sie stand nicht auf, um ihm zu zeigen, wie man richtig mit dem Laster spielte. Sieh mal, Anthony, so macht der Laster, brumm, brumm. Sie gab ihm keinen neuen Anstoß. Sie bewegte sich nicht. Er sah sie nicht an.
    Bei jedem Versuch taten ihr irgendwann Knie, Arme und Gesäß weh und flehten sie an, ihre Haltung zu ändern. Auch ihr Verstand versuchte es ihr auszureden, machte sich lustig darüber, dass sie schon wieder einen Vormittag damit vergeudete, wie eine Idiotin auf dem Boden zu
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