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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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gewöhnen.
    Sie reibt die Hände aneinander, um sie zu wärmen. Unzufrieden mit dem Ergebnis fragt sie sich, wo sie eine Decke finden könnte. Sie ist erst seit neun Tagen hier, und sie ist noch dabei zu lernen, wo alles ist, fühlt sich noch immer wie ein Gast in diesem Haus. Eine Fremde in einer Pension. Sie durchsucht den Wäscheschrank und findet eine graue Wolldecke. Sie kann sich undeutlich erinnern, sie gekauft zu haben, wickelt sie sich um die Schultern und macht es sich im Wohnzimmersessel mit der Post bequem.
    Die Rechnungen werden nach wie vor an ihre Adresse in Hingham geschickt, einem kleinen Vorort an der Südküste von Boston, daher hat sie bis jetzt noch nichts bekommen außer Werbebroschüren von Handwerkern, Postkarten für die Kommunalwahlen und Coupon-Flyern, aber heute hat sie richtige Post bekommen.
    Noch bevor sie die erste Sendung öffnet, weiß sie, dass es ein Buch von ihrer alten Chefin, Louise, ist, die als Lektorin bei Taylor Krepps arbeitet. Auf dem Umschlag klebt ein gelbes Etikett mit ihrer Nachsendeanschrift. Louise weiß nicht, dass Olivia nach Nantucket gezogen ist. Auch das mit Anthony weiß sie nicht.
    Sie weiß gar nichts.
    Es ist jetzt fünf Jahre her, dass Olivia bei Taylor Krepps Publishing in der Sparte Selbsthilfebücher als Juniorlektorin für sie gearbeitet hat, aber Louise schickt ihr noch immer Vorausexemplare. Vielleicht ist das Louises Art, ihr die Tür offen zu halten, ihr Versuch, Olivia zu überreden, wieder arbeiten zu gehen. Vielleicht ist Louise aber auch einfach nie dazu gekommen, sie aus ihrem Verteiler zu streichen. Olivia hat Louise gegenüber nie angedeutet, dass sie je zurückkommen würde; es ist ein paar Jahre her, seit sie ihr zuletzt eine Nachricht mit einem Dank oder einer Anmerkung zu einem Buch geschickt hat, und noch länger, seit sie eines der Bücher gelesen hat. Aber sie kommen trotzdem noch immer.
    Sie hat keine Kraft oder Lust mehr, irgendjemandes Selbsthilfebuch zu lesen. Sie interessiert sich nicht mehr für irgendjemandes Ratschläge oder Weisheiten. Was wissen die denn schon? Was spielt es für eine Rolle? Es ist doch alles Blödsinn.
    Früher glaubte sie an die Macht von Selbsthilfebüchern, um zu bilden, zu informieren und zu inspirieren. Sie glaubte, die richtig guten könnten Leben verändern. Als Anthony drei wurde und ihnen in aller Deutlichkeit gesagt wurde, womit sie es zu tun hatten, glaubte sie, sie würde irgendwo irgendjemanden finden, der ihnen helfen könnte, einen Experten, der ihr Leben verändern könnte.
    Sie durchforstete jedes Selbsthilfebuch, dann jede medizinische Fachzeitschrift, jeden Lebensbericht, jeden Blog und jedes Online-Elternnetzwerk. Sie las Jenny McCarthy und die Bibel. Sie las und hoffte und betete und glaubte an alles, was Hilfe, Rettung, Umkehr, Erlösung versprach. Irgendwo musste irgendjemand irgendetwas wissen. Irgendjemand musste den Schlüssel haben, um ihren Sohn aufzuschließen.
    Sie öffnet den Umschlag und hält das Buch in Händen, streicht mit den Fingern über den glatten Umschlag. Das Gefühl eines neuen Buchs liebt sie noch immer. Dieses hier hat den Titel: Die Drei-Tage-Wunderdiät von Peter Fallon, Doktor der Medizin.
    Pah, Wunder, dass ich nicht lache .
    Früher ging sie zu Konferenzen und Seminaren. Bitte, Experte Dr. Soundso, zeigen Sie uns die Antwort. Ich glaube an Sie. Früher ging sie jeden Sonntag in die Kirche. Bitte, Gott, schenk uns ein Wunder .
    Entschuldigung, Dr. Fallon. Es gibt keine Wunder , denkt sie und wirft das Buch auf den Boden.
    Als Nächstes hält sie den Pappumschlag von David hoch, starrt ihn einen langen Moment an, bevor sie die Lasche behutsam aufreißt und den Umschlag senkrecht hält.
    Drei weiße, runde, vollkommen glatte Steine fallen ihr in den Schoß. Sie lächelt. Anthonys Steine. Und drei an der Zahl. Sie schüttelt den Umschlag. Es kommen keine mehr. Es hätte ihm gefallen, dass es genau drei sind und nicht einer oder zwei oder vier. Er liebte Dinge, von denen es jeweils drei gab. Die drei kleinen Schweinchen, Eins-zwei-drei-los, Klein-mittel-groß. Natürlich, er hat nie zu ihr gesagt: Mom, ich mag die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen . Aber sie wusste, dass es so war.
    Sie lässt die drei kleinen Steine in ihrer Hand rollen, genießt, wie kühl und glatt sie sich anfühlen. Wenn sie mit der Post fertig ist, wird sie sie in die Glasschale auf dem Couchtisch legen, die bereits mindestens fünfzig andere von Anthonys weißen, runden Steinen
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