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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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makellos. Keine Poren, keine Flecken, keine Falten. Sie berührt ihre achtunddreißig Jahre alte Wange und seufzt. Jimmy sieht umwerfend aus. Das tut er noch immer, meistens.
    Sie studiert sein Lächeln auf dem Foto. Er hat einen leichten Überbiss, und seine Eckzähne stehen ein klein wenig vor. Als sie ihn kennen lernte, fand sie, dass seine leicht schiefen Zähne seinen Charme unterstrichen, ihm zu diesem markanten guten Aussehen verhalfen, ohne dass er damit wie ein Bauernlümmel aussah. Sein Lächeln ist ein selbstbewusstes, schelmisches, breites Grinsen, die Art, bei dem sich die Leute – Frauen – alle Mühe geben, der Grund dafür zu sein.
    Aber seine Zähne gehen ihr in letzter Zeit auf den Geist. Die Art, wie er mit der Zunge zwischen ihnen herumstochert, nachdem er gegessen hat. Die Art, wie er sein Essen mit offenem Mund kaut. Die Art, wie seine Eckzähne vorstehen. Manchmal ertappt sie sich dabei, wie sie sie anstarrt, während er redet, und wünscht, er würde den Mund halten. Auf diesem Hochzeitsfoto sind sie perlweiß, aber inzwischen sind sie eher karamell- als cremefarben, missbraucht von jahrelangem täglichem Kaffeegenuss und diesen stinkenden Zigarren.
    Seine einst schönen Zähne. Ihre einst schöne Haut. Seine ärgerlichen Angewohnheiten. Sie hat sie auch. Sie weiß, dass ihr Genörgel ihn rasend macht. Genau das passiert, wenn Leute älter werden, wenn sie seit vierzehn Jahren verheiratet sind. Sie lächelt über Jimmys Lächeln auf dem Foto, bevor sie es zurück auf das Kaminsims stellt, etwas links von dort, wo es zuvor stand. Sie tritt einen Schritt zurück. Sie kneift die Lippen zusammen und beäugt das ganze Arrangement.
    Ihr Kaminsims ist ein knapp drei Meter langes Stück Treibholz, das über der Feuerstelle hängt. Sie haben es eines Abends am Surfside Beach angeschwemmt gefunden, in jenem ersten Sommer. Jimmy hob es auf und sagte: Das werden wir eines Tages über dem Kamin in unserem Haus aufhängen. Dann hatte er sie geküsst, und sie glaubte ihm. Sie kannten sich erst seit ein paar Wochen.
    Drei Fotos stehen auf dem Kaminsims, alle in denselben verwitterten weißen Rahmen – links eines von Grover, als er sechs Wochen alt war, in der Mitte Beth und Jimmy, und rechts ein Strandporträt von Sophie, Jessica und Gracie in weißen Blusen und rosa geblümten Bauernröcken. Es wurde kurz nach Gracies zweitem Geburtstag aufgenommen, vor acht Jahren.
    »Wo ist nur die Zeit geblieben?«, sagt sie laut zu Grover.
    Ein riesiger, pfirsichfarbener Seestern, den Sophie drüben beim Sankaty-Leuchtturm gefunden hat, flankiert das Beth-und-Jimmy-Bild auf der linken Seite, und eine vollkommene Nautilusmuschel, auch sie riesig und ohne einen Knacks oder Kratzer, auf der rechten. Die Nautilusmuschel hat Beth drüben am Great Point gefunden, in dem Jahr, in dem sie Jimmy geheiratet hat, und sie hat sie sicher durch drei Umzüge gebracht. Seitdem hat sie hunderte von Nautilusmuscheln in der Hand gehabt und nie wieder eine ohne Makel gefunden. Das hier ist die ständige Anordnung auf dem Kaminsims. Nichts anderes ist hier erlaubt.
    Sie rückt das Hochzeitsfoto noch einmal zurecht, ein Stück nach rechts, und tritt einen Schritt zurück. So. So ist es besser. Genau in der Mitte. Alles so, wie es sein soll.
    Und was jetzt? Sie ist auf den Beinen, voller Tatendrang.
    »Komm, Grover. Lass uns die Post holen.«
    Draußen bereut sie die Idee sofort. Der Wind peitscht durch ihre dickste »windundurchlässige« Winterjacke, als wäre sie ein Sieb. Ein eisiger Schauer läuft ihr über den Rücken, und die Kälte fühlt sich an, als würde sie tief in ihre Knochen eindringen. Der Regen kommt von der Seite, klatscht ihr ins Gesicht, sodass sie kaum die Augen offen halten kann, um zu sehen, wohin sie geht. Der arme Grover, der eben noch warm und zufrieden geschlafen hat, winselt.
    »Tut mir leid, Grover. Wir sind gleich wieder zu Hause.«
    Die Briefkästen sind etwa eine halbe Meile weit entfernt. In Beths Nachbarschaft gibt es eine Handvoll Sommerbewohner und Leute, die das ganze Jahr über hier leben, aber auf ihrem Weg zu den Briefkästen sind es hauptsächlich Sommerleute. Daher sind die Häuser um diese Jahreszeit leer und dunkel. In den Fenstern brennt kein Licht, kein Rauch steigt aus den Schornsteinen auf, keine Autos parken in den Auffahrten. Alles ist leblos. Und grau. Der Himmel, die Erde, die verwitterten Zedernschindeln an jedem leeren, dunklen Haus, das Meer, das sie jetzt nicht sehen, aber riechen
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