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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben
Autoren: Lisa Genova
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kann. Alles ist grau. Daran kann sie sich nie gewöhnen. Das eintönige Grau des Winters auf Nantucket kann selbst den unerschütterlichsten Geist ins Wanken bringen. Selbst die stolzesten Einheimischen, die Leute, die diese Insel am meisten lieben, kommen im März ins Grübeln.
    Warum nur leben wir auf diesem gottverlassenen Fleckchen grauen Sands?
    Frühling, Sommer und Herbst sind anders. Der Frühling bringt die gelben Narzissen, der Sommer bringt den Mykonos-blauen Himmel, der Herbst bringt die rostroten Cranberry-Sträucher. Und sie alle bringen die Touristen. Sicher, die Touristen haben auch ihre Nachteile. Aber sie kommen. Leben! Nach dem Weihnachtsmarkt im Dezember reisen sie alle ab. Sie kehren zurück aufs amerikanische Festland und weiter, zu Orten, an denen sie McDonald’s und Staples und BJ ’s haben, und Geschäfte, die über den Januar hinaus geöffnet sind. Und Farbe. Sie haben Farben.
    Kalt, durchnässt und elend erreicht sie die Reihe grauer Boxen, die den Straßenrand säumen, öffnet das Türchen ihres Briefkastens, entnimmt ihm drei Postsendungen und stopft sie rasch in ihre Jacke, um sie vor dem Regen zu schützen.
    »Komm schon, Grover. Nach Hause!«
    Sie machen kehrt und gehen denselben Weg zurück. Jetzt, wo der Regen und der Wind sie von hinten antreiben, kann sie den Kopf heben und sehen, wohin sie geht, statt die meiste Zeit auf ihre Füße zu blicken. Von Weitem kommt jemand auf sie zu. Sie fragt sich, wer es sein könnte.
    Als sie näher kommen, erkennt sie, dass es eine Frau ist. Die meisten von Beths Freundinnen leben mitten auf der Insel. Jill lebt in Cisco, nicht allzu weit von hier, aber in der anderen Richtung, zum Meer hin, außerdem ist diese Frau zu klein, um Jill zu sein. Sie trägt einen Hut, einen Schal, den sie sich um Mund und Nase geschlungen hat, einen Parka und Stiefel. In dieser Aufmachung und bei diesem Wetter wäre es schwer, jemanden zu erkennen, aber Beth müsste eigentlich wissen, wer sie ist. Es gibt nicht viele Leute in dieser Gegend, die an einem Donnerstag im März bei diesem Wetter draußen unterwegs sind. Es gibt keine Wochenend- oder Tagesausflügler, die heute einen Spaziergang auf Nantucket unternehmen.
    Inzwischen trennen sie nur noch ein paar Meter, aber Beth kann sie noch immer nicht erkennen. Sie kann nur sehen, dass die Frau lange, schwarze Haare hat. Beth macht sich bereit, Hallo zu sagen, und sie lächelt bereits, als sie genau vor ihr ist, aber die andere Frau sieht zu Boden, meidet den Blickkontakt. Daher sagt Beth nicht Hallo, und sie kommt sich albern vor, dass sie gelächelt hat. Grover trottet auf sie zu, um an ihr zu schnuppern, aber die Frau huscht schnell vorüber und ist schon an ihnen vorbei, bevor Beth oder Grover mehr über sie in Erfahrung bringen können.
    Nach ein paar Schritten, noch immer neugierig, wirft Beth einen Blick über die Schulter und sieht die Frau bei der Reihe von Briefkästen, am hinteren Ende.
    »Vermutlich eine New Yorkerin«, murmelt sie, bevor sie sich umdreht und weiter nach Hause eilt.
    Als sie wohlbehalten wieder zu Hause sind, schüttelt sich Grover, sodass er Wassertropfen in alle Richtungen spritzt. Normalerweise würde sie ihn dafür tadeln, aber jetzt ist es egal. Sobald sie die Tür geöffnet hat, hat sich ein Schwall Wasser in den Windfang ergossen. Sie nimmt ihren Hut ab, schlüpft aus ihrer Jacke, und die Post fällt auf den Boden. Sie streift die Stiefel ab. Sie ist vollkommen durchnässt.
    Sie schält sich aus ihren nassen Socken und Jeans, wirft sie in die Waschküche und schlüpft in eine Fleece-Pyjamahose und Pantoffeln. Wärmer und trockener und sofort glücklicher geht sie noch einmal zur Haustür, um die Post vom Boden aufzuheben, bevor sie zurück zur Couch geht. Grover hat es sich wieder auf dem Flechtteppich bequem gemacht.
    Die erste Sendung ist die Heizkostenabrechnung, die vermutlich höher sein wird als ihre monatliche Hypothekenzahlung. Sie beschließt, sie erst später zu öffnen. Die nächste ist ein Victoria’s-Secret-Katalog. Sie hat sich vor drei Jahren zu Weihnachten einen einzigen Push-up- BH bestellt, und seither schicken sie ihr immer wieder diese Kataloge. Sie wird ihn ins Feuer werfen. Die letzte Sendung ist ein handschriftlich adressierter Briefumschlag an sie. Sie öffnet ihn. Es ist eine Karte mit dem Bild eines Geburtstagskuchens auf der Vorderseite.
    Mögen all deine Wünsche in Erfüllung gehen.
    Na, das ist ja seltsam , denkt sie. Ihr Geburtstag ist erst im
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